Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 528)

Gewässern ruhig und waagrecht, in den steilen Gebirgen gezackt und kühn, zu seinen Füßen fruchtreiche blühende Erde und in der Nähe des Himmels fabelhaftes Totenreich und wilde Wüste, alles dies abwechselnd und überall die Tal- und Wahlschaften bergend, die zu Füßen der fernen Gebirgsriesen wohnten oder fern hinter denselben. Er selbst schritt rüstig durch katholische und reformierte Gebietsteile, durch aufgeweckte und eigensinnig verdunkelte, und wie er sich so das ganze große Sieb von Verfassungen, Konfessionen, Parteien, Souveränitäten und Bürgerschaften dachte, durch welches die endliche sichere und klare Rechtsmehrheit gesiebt werden mußte, die zugleich die Mehrheit der Kraft, des Gemütes und des Geistes war, der fortzuleben fähig ist, da wandelte ihn die feurige Lust an, sich als der einzelne Mann, als der widerspiegelnde Teil vom Ganzen zu diesem Kampfe zu gesellen und mitten in demselben die letzte Hand an sich zu legen und sich mit regen Kräften zurecht zu schmieden zum tüchtigen und lebendigen Einzelmann, der mit ratet und mit tatet und rüstig darauf aus ist, das edle Wild der Mehrheit erjagen zu helfen, von der er selbst ein Teil ist und die ihm deswegen doch nicht teurer ist als die Minderheit, die er besiegt, weil diese von gleichem Fleisch und Blut ist hinwieder mit der Mehrheit.

»Aber die Mehrheit«, rief er vor sich her, »ist die einzige wirkliche und notwendige Macht im Lande, so greifbar und fühlbar wie die körperliche Natur selbst, an die wir gefesselt sind. Sie ist der einzig untrügliche Halt, immer jung und immer gleich mächtig; daher gilt es, unvermerkt sie vernünftig und klar zu machen, wo sie es nicht ist. Dies ist das höchste und schönste Ziel. Weil sie notwendig und unausweichlich ist, so kehren sich die übermütigen und verkehrten Köpfe aller Extreme gegen sie in unvermögender Wut, indessen sie stets abschließt und selbst den Unterlegenen sicher und beruhigt macht, während ihr ewig jugendlicher Reiz ihn zu neuem Ringen mit ihr lockt und so sein geistiges Leben erhält und nährt. Sie ist immer liebenswürdig und wünschbar, und selbst wenn sie irrt, hilft die gemeine Verantwortlichkeit den Schaden ertragen. Wenn sie den Irrtum erkennt, so ist das Erwachen aus demselben ein frischer Maimorgen und gleicht dem Schönsten und Anmutigsten, was es gibt. Sie läßt es sich nicht einfallen, sich stark zu schämen, ja die allgemeine verbreitete Heiterkeit läßt den begangenen Fehltritt kaum ungeschehen wünschen, da er ihre Erfahrung bereichert, diese Freude hervorgerufen hat und durch sein schwindendes Dunkel das Licht erst recht hell und fröhlich erscheinen läßt.

»Sie ist die reizende Aufgabe, an welcher sich ihr einzelner messen kann, und indem er dies tut, wird er erst zum ganzen Mann und es tritt eine wundersame Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teile. Mit großen Augen beschaut sich erst die Menge den einzelnen, der ihr etwas vorsagen will, und dieser, mutvoll ausharrend, kehrt sein bestes Wesen heraus, um zu siegen. Er denke aber nicht, ihr Meister zu sein; denn vor ihm sind andere da gewesen, nach ihm werden andere kommen, und jeder wurde von der Menge geboren; er

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