Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 527)

Zeit geführt, dröhnte ihm das gewaltige Getöse betäubend in das Gemüt; denn obgleich da durchaus kein wüstes oder kindisches Geschrei herrschte, sondern ein ausgedehntes Meer gehaltener Männerstimmen wogte, aus dem nur hie und da eine lautere Brandung oder ein fester feuriger Gesang aufstieg, so bildete doch diese handfteste Wirklichkeit und Rührigkeit einen grellen Gegensatz zu dem lautlosen entsagungsbereiten Liebesleiden Heinrichs von jüngst, aus dem nur etwa jener eintönige Starenruf heraustönte. Doch erinnerte er sich, daß dies eine alte Weise seiner Landsleute und nicht etwa ein Zeichen des Verfalles sei und daß die sogenannten alten frommen Schweizer, welche so andächtig niederknieten, ehe sie sich schlugen, mit ihren langen Bärten und schiefen Kerbhütchen zuweilen noch viel wilder tun, bankettieren und rumoren konnten als die jetzigen und daß also deswegen kein Verfall eingetreten und die Schweizer Schützen immer noch die seien, deren Vorfahren vor Jahrhunderten die Straßburger besucht, wenn diese schossen. Auch jetzt rollten ganze Bahnzüge voll Schweizer nach Straßburg hinunter; aber es gab dort keine freien reichsstädtischen Straßburger mehr, sondern nur französische Elsässer und französisches Militär.

Heinrich versöhnte sich also mit dem Zechgetöse, und zwar ließ er dem Gewalthaufen der Trinker sein Recht der Majorität, ohne das Recht seiner Person aufzugeben und sich diesmal ganz ruhig und nüchtern zu erhalten, da ihm die neueste Vergangenheit mit Dortchen und die nächste Zukunft mit seiner Mutter alle Lust fern hielten, sich irgendwie hervortun und jubilieren zu wollen. Dagegen kaufte er sich in der Stadt ein gutes Geschoß und mischte sich unter die Schießenden, nicht um irgend sein Glück zu versuchen, sondern um zu sehen, ob er für seinen Handgebrauch und für den Notfall etwa im Ernste mitzugehen imstande wäre. Er hatte früher, ehe er in die Fremde gegangen, nur wenig geschossen bei zufälligen Gelegenheiten und bei dem Leichtsinn, mit welcher seine Jugend die Sache in die Hand nahm, nichts Sonderliches ausgerichtet. Jetzt erfuhr er, wie der Ernst des Lebens und die Zeit fähig machen, auch die einfachsten Dinge besonnener in die Hand zu nehmen, und während des Tages, an welchem er fleißig schoß, erlangte er die Gewißheit, bei fortgesetzter Übung sich die Eigenschaft zu erwerben, nicht bloß ein Maulheld zu sein oder ein Bratenschütze, sondern in der Stunde der Gefahr etwa für seine Person, und was ihm teuer war, einzustehen.

So wurde sein Heimweg gehemmt und aufgehalten, wie nur eine ängstliche Traumreise aufgehalten werden kann, und es war ihm fast gleich zu Mute wie in jenen Träumen, in denen er heimreiste, und fühlte sich beklommen, so daß er sich losreißen mußte, um nur endlich weiterzukommen. Da alle Posten und Fuhrwerke überfüllt waren, ließ er bloß seine Sachen mit der Post gehen und machte sich an einem kristallhellen Morgen zu Fuß auf den Weg, um endlich der Vaterstadt zuzueilen von einer anderen Seite als er sie vor sieben Jahren verlassen. Überall lag das Land im himmelblauen Duft, aus welchem der Silberschein der Gebirgszüge und der Seen und Ströme funkelte, und die Sonne spielte auf dem betauten Grün. Er sah die reichen Formen des Landes, in Ebenen und

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