Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 531)

Bitterkeit ihm für zuträglich hielten und dachten, es könne ihm, da er nun in gutem Gedeihen begriffen sei, nicht schaden, etwas gekränkt zu werden, damit der Ernst umso länger vorhalte und er nun ein gründlich guter Bürgersmann werde.

So war nun der schöne Spiegel, welcher sein Volk widerspiegeln wollte, zerschlagen und der einzelne, welcher an der Mehrheit mitwachsen wollte, gebrochen. Denn da er die unmittelbare Lebensquelle, welche ihn mit seinem Volke verband, vernichtet, so hatte er kein Recht und keine Ehre, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte: Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür.

Ungeachtet des Widerspruches seiner Gastfreunde suchte er die Wohnung noch auf, in welcher die Mutter gestorben, ließ sich dieselbe übergeben und brachte die Nacht darin zu, im Dunkeln sitzend. Wenn ihr bloßer, durch ihn verschuldeter Tod sein äußeres Leben und Wirken, auf das er nun alle Hoffnung gesetzt hatte, fortan unmöglich machte, so brach in dieser Nacht die Tatsache sein innerstes Leben, daß sie endlich mußte geglaubt haben, ihn als keinen guten Sohn zu durchschauen, und es fielen ihm ungerufen jene furchtbaren Worte ein, welche Manfred von einem durch ihn vernichteten blutsverwandten weiblichen Wesen spricht:

»Nicht meine Hand, mein Herz das brach das ihre,

Es welkte, mich durchschauend.«

Es war ihm, als ob alle Mütter der Erde ihn durchschauten, alle glücklichen ihn verachteten und alle unglücklichen ihn haßten als auch zur Rotte Korah gehörig. Da nun aber in Wirklichkeit nichts an ihm zu durchschauen war als das lauterste und reinste Wasser eines ehrlichen Wollens, wie er jetzt war, so erschien ihm dies Leben wie eine abscheuliche, tückische Hintergehung, wie eine niederträchtige und tödliche Narretei und Vexation, und er brauchte alle Mühen seiner ringenden Vernunft, um diese Vorstellung zu unterdrücken und der guten Meinung der Welt ihr Recht zu geben.

Als das enge Gemach sich mit dem Morgengrauen ein wenig erhellte, sah er den alten bekannten Hausrat, der einst die bequemeren Räume erfüllt, unordentlich und ängstlich zusammengehäuft; er wagte nicht, einen Schrank zu öffnen, und tat endlich nur einen altmodischen Koffer auf, der da zunächst stand. Er enthielt die alten Trachten von den Vorfahrinnen seiner Mutter, wie sie die Frauen gern aufzubewahren pflegen. Großblumige oder gestreifte seidene Röcke und Jäckchen, rote Schuhe mit hohen Absätzen, silbergewirkte Bänder, Häubchen, mächtige weiße Halstücher mit reichen Stickereien, Fächer, bemalt mit Schäferspielen, Fischern und Vogelstellern, und eine Menge zerquetschter künstlicher Blumen, alles das lag vergilbt und zerknittert durcheinander und war doch mit einer gewissen unverwüstlichen Frische anzufühlen, da die weibliche Schonung und Sparsamkeit in der Aufregung diese Festkleider und Putzsachen wohl erhalten und so alt werden ließ. In früheren Jahren, da sie noch eine jüngere Witwe war, hatte sich die Mutter alle Jahr einmal das bescheidene Vergnügen gemacht, an fröhlichen Festtagen die Tracht ihrer Großmutter anzulegen und sich darin etwa zu einem kleinen Abendschmaus zu setzen, und der kleine Heinrich hatte sie alsdann höchlich bewundert und nicht genugsam betrachten können.

Er drückte den Deckel wieder zu und ging durch die Stadt, um hie und da altbefreundete Leute zu begrüßen; man sah

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