Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 10)

seiner Mütze: da konnte dieser sonderbare Bursche für die Hälfte der Zuschauer etwas vorteilhaft Anregendes, aber gewiß auch für die andere Hälfte etwas ungemein Lächerliches haben. Fein gefühlig und klug sah er darein, jedoch sein Äußeres war zugleich seltsam und unbeholfen. Was er eigentlich war und wollte, das müssen wir mit ihm selbst zuerst erfahren und erleben; daß man es in jenem Augenblick nicht recht wissen konnte, machte seiner Mutter genugsamen Kummer.

Sie war auf ihre Stube zurückgekehrt. Ein tiefes Gefühl der Verlassenheit und der Einsamkeit überkam sie und sie weinte und schluchzte, die Stirn auf den Tisch gelehnt. Der frühe Tod ihres Mannes, die Zukunft ihres sorglosen Kindes, ihre Ratlosigkeit, alles kam zumal über ihr einsames Herz. Ein mächtiges Ostermorgengeläute weckte und mahnte sie, Trost in der Gemeinschaft der vollen Kirche zu suchen. Schwarz und feierlich gekleidet ging sie hin; es ward ihr wohl etwas leichter in der Mitte einer Menge Frauen gleichen Standes; allein, da der Prediger ausschließlich das Wunder der Auferstehung sowie der vorhergehenden Höllenfahrt dogmatisierend verhandelte, ohne die mindesten Beziehungen zu einem erregten Menschenherzen, so genoß die gute Frau vom ganzen Gottesdienste nichts als das Vaterunser, welches sie recht inbrünstig mitbetete, dessen innerste Wahrheit sie aufrichtete.

Die Erinnerung an empfangene Liebe, als ein Zeugnis, daß man ein Mal im Leben liebenswürdig und wert war, ist es vorzüglich, welche die Sehnsucht nach der früheren Jugend nie ersterben läßt. Wer nicht das Glück hatte, eine aufknospende zarte und heilige Jugendliebe zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue und liebevolle Mutter gehabt, und in den spätern Tagen bringen beide Erinnerungen ungefähr den gleichen Eindruck auf das Gemüt hervor, eine Art reuiger Sehnsucht. Wer aber in jeder Weise verwaist und einsam aufgewachsen ist, der kann wohl sagen, daß er um einen Teil des Lebens zu kurz gekommen sei.

Zweites Kapitel

Indem eine Grundlinie der Landschaft nach der anderen sich verschob und veränderte und aus dem heiteren Ziehen und Weben ein ganz neuer Gesichtskreis hervorging, welcher allmählich wieder in einen neuen sich auflöste, war Heinrich, mit hellen Jugend­augen aufmerkend, seinem eigenen Wesen zurückgegeben. Die verlassene Mutter und Heimat bildeten wohl eine zarte und weiche Grundlage in seinem Gemüte; doch auf ihr spielten mit ungebrochenen Farben alle Bilder der neuen Welt, welche ihm aufging. Denn obgleich schon ziemlich die weite Welt in leicht erfaßten Bildern seinem inneren Sinne vorbeigezogen war und besonders sein Künstlergedächtnis die Formen und Gestalten der fernsten Zonen bewahrte, so war ihm doch jetzt die kleinste Neuheit, welche durch jede weitere Stunde Wegs gebracht wurde, das Nächste und Wichtigste. Eine neue Art von bemalten Fensterladen oder Wirts­hausschildern, eine eigentümliche Gattung von Brunnensäulen oder Dachgiebeln in diesem oder jenem Dorfe, besonders aber die bald vor- bald seitwärts, bald fern bald nah, immer frisch auftauchenden Bergzüge und Erdwellen machten ihm die größte Freude. Es war ein windstiller, lieblicher Frühlingstag. Lange Zeit sah er eine milde weiße Wolke über dem Horizonte stehen, zu seiner Rechten, oder auch zur Linken, wie der Wagen eben fuhr; die sanften, bald fern blauen, bald nah grünen oder braunen

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