Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 40)

und beschien das weite Wattenmeer, das eben in der steigenden Flut seine Wasser über die glitzernden Schlickflächen zu spülen begann. Nur das leise Geräusch des Wassers, keine Tierstimme war in der ungeheueren Weite hier zu hören; auch in der Marsch, hinter dem Deiche, war es leer; Kühe und Rinder waren alle noch in den Ställen. Nichts regte sich; nur was sie für ein Pferd, einen Schimmel, hielten, schien dort auf Jevershallig noch beweglich. ›Es wird heller‹, unterbrach der Knecht die Stille; ›ich sehe deutlich die weißen Schafgerippe schimmern!‹

›Ich auch‹, sagte der Junge und reckte den Hals; dann aber, als komme es ihm plötzlich, zupfte er den Knecht am Ärmel: ›Iven‹, raunte er, ›das Pferdsgerippe, das sonst dabei lag, wo ist es? Ich kann's nicht sehen!‹

›Ich seh es auch nicht! Seltsam!‹ sagte der Knecht.

– ›Nicht so seltsam, Iven! Mitunter, ich weiß nicht, in welchen Nächten, sollen die Knochen sich erheben und tun, als ob sie lebig wären!‹

›So?‹ machte der Knecht; ›das ist ja Altweiberglaube!‹

›Kann sein, Iven‹, meinte der Junge.

›Aber ich mein, du sollst mich holen; komm, wir müssen nach Haus! Es bleibt hier immer doch dasselbe.‹

Der Junge war nicht fortzubringen, bis der Knecht ihn mit Gewalt herumgedreht und auf den Weg gebracht hatte. ›Hör, Carsten‹, sagte dieser, als die gespensterhafte Hallig ihnen schon ein gut Stück im Rücken lag, ›du giltst ja für einen Allerweltsbengel; ich glaub, du möchtest das am liebsten selber untersuchen!‹

›Ja‹, entgegnete Carsten, nachträglich noch ein wenig schaudernd, ›ja das möcht ich, Iven!‹

›Ist das dein Ernst? – dann‹, sagte der Knecht, nachdem der Junge ihm nachdrücklich darauf die Hand ge­boten hatte, ›lösen wir morgen abend unser Boot; du fährst nach Jeverssand; ich bleib solange auf dem Deiche stehen.‹

›Ja‹, erwiderte der Junge, ›das geht! Ich nehme meine Peitsche mit!‹

›Tu das!‹

Schweigend kamen sie an das Haus ihrer Herrschaft, zu dem sie langsam die hohe Werft hinanstiegen.

Um dieselbe Zeit des folgenden Abends saß der Knecht auf dem großen Steine vor der Stalltür, als der Junge mit seiner Peitsche knallend zu ihm kam. ›Das pfeift ja wunderlich!‹ sagte jener.

›Freilich nimm dich in acht‹, entgegnete der Junge; ›ich hab auch Nägel in die Schnur geflochten.‹

›So komm!‹ sagte der andere.

Der Mond stand, wie gestern, am Osthimmel und schien klar aus seiner Höhe. Bald waren beide wieder draußen auf dem Deich und sahen hinüber nach Jevershallig, die wie ein Nebelfleck im Wasser stand. ›Da geht es wieder‹, sagte der Knecht; ›nach Mittag war ich hier, da war's nicht da; aber ich sah deutlich das weiße Pferdsgerippe liegen!‹

Der Junge reckte den Hals: ›Das ist jetzt nicht da, Iven‹, flüsterte er.

›Nun, Carsten, wie ist's?‹ sagte der Knecht. ›Juckt's dich noch, hinüberzufahren?‹

Carsten besann sich einen Augenblick; dann klatschte er mit seiner Peitsche in die Luft. ›Mach nur das Boot los, Iven!‹

Drüben aber war es, als hebe, was dorten ging, den Hals und reckte gegen das Festland hin den Kopf. Sie sahen es nicht mehr; sie gingen schon den Deich hinab und bis zur Stelle, wo das Boot gelegen war. ›Nun, steig nur ein!‹ sagte der Knecht, nachdem er

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