Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 63)
Hühnern zu erzählen?‹
Die Alte sah ihn mit einem bösen Blicke an und schob die Kleine von sich fort: ›Das sind keine Mären‹, murmelte sie in sich hinein, ›das hat mein Großohm mir erzählt.‹
›Ihr Großohm, Trin? Sie wollte es ja eben selbst erlebt haben.‹
›Das ist egal‹, sagte die Alte; ›aber Ihr glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!‹ Dann rückte sie näher an den Herd und streckte die Hände über die Flammen des Feuerlochs.
Der Deichgraf warf einen Blick gegen das Fenster: draußen dämmerte es noch kaum. ›Komm, Wienke!‹ sagte er und zog sein schwachsinniges Kind zu sich heran; ›komm mit mir, ich will dir draußen vom Deich aus etwas zeigen! Nur müssen wir zu Fuß gehen; der Schimmel ist beim Schmied.‹ Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke band dem Kinde dicke, wollene Tücher um Hals und Schultern; und bald danach ging der Vater mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordwest hinauf, Jeverssand vorbei, bis wo die Watten breit, fast unübersehbar wurden.
Bald hatte er sie getragen, bald ging sie an seiner Hand; die Dämmerung wuchs allmählich; in der Ferne verschwand alles in Dunst und Duft. Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten die unsichtbar schwellenden Wattströme das Eis zerrissen, und, wie Hauke Haien es in seiner Jugend einst gesehen hatte, aus den Spalten stiegen wie damals die rauchenden Nebel, und daran entlang waren wiederum die unheimlichen, närrischen Gestalten und hüpften gegeneinander und dienerten und dehnten sich plötzlich schreckhaft in die Breite.
Das Kind klammerte sich angstvoll an seinen Vater und deckte dessen Hand über sein Gesichtlein: ›die Seeteufel!‹ raunte es zitternd zwischen seine Finger; ›die Seeteufel!‹
Er schüttelte den Kopf: ›Nein, Wienke, weder Wasserweiber noch Seeteufel; so etwas gibt es nicht; wer hat dir davon gesagt?‹
Sie sah mit stumpfem Blicke zu ihm herauf; aber sie antwortete nicht. Er strich ihr zärtlich über die Wangen: ›Sieh nur wieder hin!‹ sagte er, ›das sind nur arme, hungrige Vögel! Sieh nur, wie jetzt der große seine Flügel breitet; die holen sich die Fische, die in die rauchenden Spalten kommen.‹
›Fische‹, wiederholte Wienke.
›Ja, Kind, das alles ist lebig, so wie wir; es gibt nichts anderes; aber der liebe Gott ist überall!‹
Klein Wienke hatte ihre Augen fest auf den Boden gerichtet und hielt den Atem an; es war, als sähe sie erschrocken in einen Abgrund. Es war vielleicht nur so; der Vater blickte lange auf sie hin, er bückte sich und sah in ihr Gesichtlein; aber keine Regung der verschlossenen Seele wurde darin kund. Er hob sie auf den Arm und steckte ihre verklommenen Händchen in einen seiner dicken Wollhandschuhe: ›So, mein Wienke‹ – und das Kind vernahm wohl nicht den Ton von heftiger Innigkeit in seinen Worten – ›so, wärm dich bei mir! Du bist doch unser Kind, unser einziges. Du hast uns lieb …!‹ Die Stimme brach dem Manne; aber die Kleine drückte zärtlich ihr Köpfchen in seinen rauhen Bart.
So gingen sie friedlich heimwärts.
Nach Neujahr war wieder einmal die Sorge in das Haus getreten; ein Marschfieber