Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 96)

und alles Unkraut verschwunden und nur das schöne Gras war noch da. Wieder einige Tage später stand an dem einen Ende ein schlichtes, schwarzes Kreuz; endlich war auf der Rückseite des Kreuzes, vom Wege abgekehrt, ein Mädchenname eingeschnitten, mit kleinen Buchstaben, ohne Färbung, nur in der Nähe erkennbar.

Es war Nacht geworden. In der Stadt waren die Fenster dunkel, es schlief schon alles; nur oben in den hohen Zimmern eines großen Hauses wachte noch ein junger Mann. Er hatte die Kerzen ausgetan und saß mit geschlossenen Augen in einem Lehnsessel, horchend, ob unten alles zur Ruhe gegangen sei; in der Hand hielt er einen Kranz von weißen Moosrosen. So saß er lange.

Draußen ward eine andere Welt lebendig; das Getier der Nacht strich umher, es wimmerte etwas in der Ferne. Als er die Augen aufschlug, war das Zimmer hell; er konnte die Bilder an den Wänden erkennen; durchs Fenster sah er die gegenüberstehende Wand des Seitenflügels in herber Mondscheinbeleuchtung. Seine Gedanken gingen den Weg zum Kirchhof. »Das Grab liegt im Schatten«, sagte er – – »der Mond scheint nicht darauf.« Dann stand er auf, öffnete vorsichtig und stieg mit seinem Kranz die Treppen hinab. Auf dem Hausflur horchte er noch einmal, und nachdem er geräuschlos die Tür aufgeschlossen, ging er auf die Straße und im Schatten der Häuser zur Stadt hinaus, eine Strecke fort im Mondschein, bis er den Kirchhof erreicht hatte.

Es war, wie er gesagt hatte; das Grab lag im tiefen Schatten der Kirchhofsmauer. Er hing den Rosenkranz über das schwarze Kreuz; dann lehnte er den Kopf daran. – Der Wächter ging draußen vorüber; aber er bemerkte ihn nicht; die Stimmen der Mondnacht erwachten, das Säuseln der Gräser, das Springen der Nachtblüten, das feine Singen in den Lüften; er hörte es nicht, er lebte in einer Stunde, die nicht mehr war, umfangen von zwei Mädchenarmen, die sich längst über einem stillen Herzen geschlossen hatten. Ein blasses Gesichtchen drängte sich an seins; zwei kinderblaue Augen sahen in die seinen.

Sie trug den Tod schon in sich; noch aber war sie jung und schön; noch reizte sie und wurde noch begehrt. Sie liebte ihn, sie tat ihm alles. Oft war sie seinetwegen gescholten worden; dann hatte sie mit ihren stillen

Augen drein gesehen, es war aber deshalb nicht anders geworden. Nachts im kalten Vorfrühling, in ihrem vertragenen Kleidchen kam sie zu ihm in den Garten; er konnte sie nicht anders sehen.

Er liebte sie nicht, er begehrte sie nur und nahm achtlos das ängstliche Feuer von ihren Lippen. »Wenn ich geschwätzig wäre«, sagte er, »so könnte ich morgen erzählen, daß mich das schönste Mädchen in der Stadt geküßt hat.«

Sie glaubte nicht, daß er sie für die Schönste halte, sie glaubte auch nicht, daß er schweigen werde.

Ein niedriger Zaun trennte den Fleck, worauf sie standen, von der Straße. Nun hörten sie Schritte in ihre Nähe kommen. Er wollte sie mit sich fortziehen; aber sie hielt ihn zurück. »Es ist einerlei«, sagte sie.

Er machte sich von ihren Armen los und trat allein zurück. Sie blieb stehen, regungslos; nur

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