Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 97)

daß sie ihre beiden Hände an die Augen drückte. – So stand sie noch, als draußen die Menschen vorübergegangen waren und als sich das Geräusch der Schritte unten zwischen den Häusern verloren hatte. Sie sah es nicht, daß er wieder zu ihr getreten war und seinen Arm um ihren Nacken legte; aber als sie es fühlte, neigte sie den Kopf noch tiefer. »Du schämst dich!« sagte sie leise, »ich weiß es wohl.«

Er antwortete nicht; er hatte sich auf die Bank gesetzt und zog sie schweigend zu sich nieder. Sie ließ es geschehen, sie legte ihre Lippen auf seine schönen, vornehmen Hände; sie fürchtete, ihn betrübt zu haben.

Er hob sie lächelnd auf seinen Schoß und wunderte sich, daß er keine Last fühle, nur die Form ihres zarten, elfenhaften Körpers; er sagte ihr neckend, sie sei eine Hexe, sie wiege keine dreißig Lot. – Der Wind kam durch die nackten Zweige; er schlug seinen Mantel um ihre Füße. Sie sah mit glücklichen Augen zu ihm auf. »Mich friert nicht!« sagte sie und preßte ihre Stirn fest an seine Brust.

Sie war in seiner Gewalt; sie wollte nichts mehr für sich allein. – Er schonte ihrer; nicht weil es ihn ihrer erbarmte oder weil er es als Sünde empfunden hätte, sie ohne Liebe sein zu nennen; aber es war, als wehre ihm jemand, sie ganz zu besitzen. Er wußte nicht, daß das der Tod sei. – –

Er war aufgestanden, er wollte gehen. »Du wirst zu kalt«, sagte er. Aber sie drückte seine Hand an ihre Wange, sie legte ihre Stirn an seine. »Ich bin heiß! fühl' nur, brennend heiß!« sagte sie. Sie schlug ihre Arme um seinen Nacken, sie ließ sich wie ein Kind an seinem Halse hängen und sah ihn stumm und selbstvergessen an.

Acht Tage nach dieser kalten Nacht vermochte sie das Bett nicht zu verlassen; zwei Monate später war sie gestorben. Er hatte sie nicht wiedergesehen; aber seit ihrem Tode ist seine Begierde erloschen; er trägt jetzt schon jahrelang ihr frisches Bild mit sich herum und ist gezwungen, eine Tote zu lieben.

 

Viola tricolor

 

Es war sehr still in dem großen Hause; aber selbst auf dem Flur spürte man den Duft von frischen Blumensträußen.

Aus einer Flügeltür, der breiten, in das Oberhaus hinaufführenden Treppe gegenüber, trat eine alte, sauber gekleidete Dienerin. Mit einer feierlichen Selbstzufriedenheit drückte sie hinter sich die Tür ins Schloß und ließ dann ihre grauen Augen an den Wänden entlang streifen, als wolle sie auch hier jedes Stäubchen noch einer letzten Musterung unterziehen; aber sie nickte beifällig und warf dann einen Blick auf die alte, englische Hausuhr, deren Glockenspiel eben zum zweitenmal seinen Satz abgespielt hatte.

»Schon halb!« murmelte die Alte; »und um acht, so schrieb der Herr Professor, wollten die Herrschaften da sein!«

Hierauf griff sie in ihrer Tasche nach einem großen Schlüsselbund und verschwand dann in den hinteren Räumen des Hauses. – Und wieder wurde es still; nur der Perpendikelschlag der Uhr tönte durch den geräumigen Flur und in das Treppenhaus hinauf; durch das Fenster über der Haustür fiel noch ein

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