Literaturepoche Realismus (Seite 3)
Ähnliches gilt für die Dorfgeschichte, die eine gesellschaftliche Realität im Kleinformat schildert und dabei die Problematik sozialer Konflikte darstellen kann – allerdings um den Preis, daß sie eine Gesellschaftsform schildert, der in der Realität des 19. Jahrhunderts immer weniger Bedeutung zukam. Wieder ist als einer der bedeutendsten Repräsentanten dieser literarischen Form Gottfried Keller (Romeo und Julia auf dem Dorfe, Kleider machen Leute, aus der Sammlung Die Leute von Seldwyla, 1856/1874) zu nennen, daneben Berthold Auerbach (Schwarzwälder Dorfgeschichten, 1843–1854), Jeremias Gotthelf (Uli der Knecht, 1840, Die schwarze Spinne, 1842) und Ludwig Anzengruber (Der Sternsteinhof, 1883).
Eine weitere wichtige literarische Strömung im Realismus ist das historische Erzählen. Zum einen ist darunter der sogenannte »Professorenroman« zu verstehen, zu dessen charakteristischen Vertretern Felix Dahn, Josef Victor von Scheffel (Der Trompeter von Säckingen, 1854) und Gustav Freytag (Die Ahnen, 1872–1880) zu zählen sind. Diese Romane sind stark mit historischem und kulturhistorischem Wissen unterfüttert und versuchen, eine Mischung aus Geschichtsschreibung und Roman zu bieten. Typischerweise werden große historische Umbrüche dargestellt, so etwa der Untergang Ostroms in Felix Dahns Ein Kampf um Rom (1876).
Diejenigen Autoren, die heute noch die höchste literarische Geltung beanspruchen können, also namentlich Theodor Fontane, Theodor Storm, Wilhelm Raabe und Conrad Ferdinand Meyer, lassen sich keiner der genannten Strömungen innerhalb des Realismus zurechnen. So schreibt Conrad Ferdiand Meyer zwar ausschließlich historische Erzählungen und Romane (u. a. Das Amulett, 1873, Jürg Jenatsch, 1874, Der Heilige, 1880, Die Versuchung des Pescara, 1887), doch ist sein Zugang zur Geschichte ein ganz anderer als der der Autoren des »Professorenromans«. Meyer geht es nicht um eine Ausbreitung historischen Wissens, sondern um die Darstellung der Verstrickung des Individuums in den politischen Verhältnissen seiner Zeit, in das ausschließlich am Machtgewinn orientierte Intrigenspiel. Dabei stehen für Meyer gerade die Figuren im Vordergrund, die aufgrund ihrer Weltfremdheit oder aber aufgrund ihres moralischen Ernstes nicht fähig oder gewillt sind, am Intrigenspiel mitzuwirken und die deshalb untergehen müssen.