Literaturepoche Realismus (Seite 4)

Theodor Fontane, dessen Romanwerk (u. a. Schach von Wuthenow, 1883, Irrungen Wirrungen, 1888, Frau Jenny Treibel, 1892, Effi Briest, 1895) zum überwiegenden Teil durch den Begriff »Berliner Gesellschaftsroman« gekennzeichnet werden kann, stellt ebenfalls Figuren in den Vordergrund, die eine Ausnahmestellung in der dargestellten Gesellschaft innehaben, und zwar aufgrund ihrer Abweichung von den Normen der Gesellschaft. Der dominante Grundkonflikt bei Fontane resultiert aus dem Wunsch nach erotischer Selbstverwirklichung (zumeist bei der weiblichen Heldin) und der – auf die eine oder andere Weise – dadurch bewirkten Kränkung der Würde des jeweiligen (meist männlichen) Partners, die häufig zum Selbstmord führt.

Wilhelm Raabe hat mit seinen Figuren wohl die krassesten Außenseitergestalten des Realismus geschaffen (Der Hungerpastor, 1862, Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge, 1867, Horaker, 1876, Das Odfeld, 1889). Dabei fungiert häufig eine gesellschaftlich gut integrierte, biedere Figur als Erzähler (so in Die Chronik der Sperlingsgasse, 1857, Stopfkuchen, 1891 und Die Akten des Vogelsangs, 1893), während die Außenseiterfigur die eigentliche Hauptfigur ist.

Theodor Storm ist allenfalls in seinem Frühwerk (u. a. Immensee, 1849) der Erzähler einer beschaulichen, harmonischen Welt. Mehr und mehr tritt in Storms späteren Werk ein düsterer Pessimismus hervor, der seine Helden tragisch scheitern läßt (Aquis submersus, 1875, Zur Chronik von Grieshuus, 1884, Der Schimmelreiter, 1888).

Eine Ausnahmeposition nimmt auch Friedrich Hebbel ein, der einzige bedeutende Dramatiker dieser Epoche. Mag sein bürgerliches Trauerspiel Maria Magdalene (1844) in der Abbildung des kleinbürgerlichen Milieus durchaus 'realistische' Züge tragen, so sind seine vorwiegend historischen Dramen von der Außeinandersetzung mit dem deutschen Idealismus, vor allem mit Hegels Philosophie geprägt; in ihnen entsteht die Tragik aus dem Widerspruch zwischen dem Individuum mit seinem persönlichen Willen und den ihm entgegengesetzten Mächten der Gesellschaft und der Geschichte, die letztlich zur Vernichtung des einzelnen führen.

So läßt sich für die heute noch als bedeutend geltenden Schriftsteller des Realismus (mit der erwähnten Ausnahme Kellers) konstatieren, daß ihre Welt – ganz im Gegensatz zur Welt der frührealistischen Literatur des bürgerlichen Wirtschaftslebens – meist eine grausame Welt ist, in der das Individuum mit seiner Hoffnung auf persönliches Glück an den Konventionen der Gesellschaft und den Intrigen seiner Mitmenschen scheitert.

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