Ungekürztes Werk "Joseph" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 7)

sie dies sagte, so muß ich der armen Frau all ihre Schwächen vergeben und bin überzeugt, daß sie entschlossen war, ihrer Pflicht ein ganzes Lebensglücks zu opfern; was freilich nur in der Einbildung bestand, aber, Mynheer, der Wille ist doch so gut wie die Tat.

Wirklich ging Madame am andern Morgen gegen ihre Gewohnheit sehr früh aus; sie kam blaß und niedergeschlagen zurück, packte sogleich ihre Romane und ließ sie Herrn Steenwick bringen, mit der Bitte, ihr keine anderen zu schicken, da es ihr vorläufig an Zeit zum Lesen fehle.

Von jetzt an horchte ich jeden Abend im Bette und bemerkte auch, daß Madame jeden Abend horchte, aber verstohlen, nachdem sie durch die Gardine geschielt hatte, ob ich schlafe, und jeden Abend hörte ich Herrn Steenwicks vorbeischleichen und Madames verhaltenes, betrübtes Weinen, daß ich oft die halbe Nacht nicht schlafen konnte.

Den Tag über war Madame wie zerschlagen und griff alles verkehrt an; die Unterrichtsstunden wurden fast nicht gehalten.

Sie saß beständig am Fenster, nähte wie ums Brot, und, so oft die Comptoirtüre ging, fiel eine zerbrochene Nähnadel auf den Boden; auch halb verstohlene Ausgänge wurden mitunter gewagt.

Nach etwa acht Tagen sagte Madame abends: »Stanzchen, morgen spreche ich mit dem Papa.«

Sie sah hierbei überaus blaß aus und hatte etwas Edles im Gesicht, das ich nie an ihr gesehen hatte und das mir mehr imponierte, als werde ich gescholten, so daß ich sehr leise und rücksichtsvoll zu Bette ging, wie in Gegenwart einer Prinzessin.

Madame ließ das Licht brennen und las lange und eifrig im Thomas a Kempis. Plötzlich fuhren wir beide auf. Herrn Steenwicks Tür wurde mit Geräusch auf- und zugemacht, und er stapfte, einen Gassenhauer pfeifend, über den Gang; dann stand er mit einem Male still und schien sich zu besinnen oder zu horchen, und dann gings leise, leise mit Katzenschritten die Treppe hinunter. Der Sand im Flure knirrte, die Haustür ging, alles leiser als je. Ich sah Madame an und begegnete einem Ausdrucke des Schreckens, der mich betäubte. Sie saß aufrecht im Bette, die Hände gefaltet. »Jesus, Maria!« war alles, was sie sagte. Dann stand sie auf, öffnete das Fenster und lauschte eine Weile hinaus, kam dann schnell zurück, legte sich und löschte das Licht.

Ich hörte Madame in dieser Nacht nicht weinen, aber so oft ich wach wurde, heftig atmen und sich im Bette bewegen, und ich hörte es oft; denn obwohl ich mir von meinen Gefühlen eigentlich nicht Rechenschaft zu geben wußte, hatten doch dieser polternde Gang, dies wilde, abgebrochene Pfeifen durch die Stille und darauf folgende Katzenschleichen mich mit einem Grausen überrieselt, daß ich mich fast vor den Schnörkeln an der Gardine und am Betthimmel fürchtete.

Als es kaum Tag geworden war, saß Madame schon wieder aufrecht und sah nach ihrer Taschenuhr; so mehrere Male. Um halb sieben klingelte sie und gab der Magd einen konfusen Auftrag an Herrn Steenwick. Das Mädchen kam zurück. Er war noch nicht im Comptoir. »So geh auf sein Zimmer!« Die Tür war verschlossen.

Wir standen auf. Von Unterrichtsstunden war keine Rede. Ich saß mit meinem Strickzeuge in

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