Ungekürztes Werk "Joseph" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 8)

einem Winkel und Madame mit ihrer Nähterei am Fenster. Drei- oder viermal stand sie auf und ging ins Haus hinunter und kam immer blasser wieder. Gesprochen wurde nicht.

Als wir um zwei ins Speisezimmer traten, war mein Vater anfangs nicht da und ließ sagen, wir möchten nur anfangen zu essen. Wir fragten nach dem Buchhalter; er sei bei dem Herrn. Wir aßen um der Domestiken willen einige Löffel Suppe, so sauer es uns wurde.

Da kam der Vater herein, sehr rot und aufgeregt. Er legte sich, gegen seine Gewohnheit, selbst vor, spielte mit dem Löffel und fragte dann, als der Bediente gerade herausging, wie hingeworfen: »Madame, Sie wohnen doch dem Kassierer gegenüber; wissen Sie nicht, wann er diesen Morgen ausgegangen ist?«

Über Madames Gesicht flog eine glühende Röte, die einem wahrhaft edlen Ausdrucke Platz machte. Sie stand auf und sagte mit fester Stimme: »Mynheer, Herr Steenwick ist diese Nacht nicht im Hause gewesen.«

Mein Vater sah sie an mit einem Gesichte, das mehr Angst als Bestürzung verriet. Er stand auf, gab draußen einige Befehle und setzte dann sein Verhör fort.

»Haben Sie gestern bemerkt, wann er fortging?«

»Ja, Mynheer, um halb zwölf«, und nach einigem Zögern setzte sie hinzu, »haben wir, Stanzchen und ich, ihn fortschleichen hören.«

»Fortschleichen?« rief mein Vater und wurde fast ebenso blaß als Madame. »Also doch wahr! Seien Sie aufrichtig, Madame, war es zum ersten Male?« Es war, als sinke die arme Frau in sich zusammen, als sie stammelnd antwortete: »Nein, Mynheer, nein, schon seit acht Tagen jeden Abend.«

Mein Vater sah sie starr an.

»O Mynheer, fragen Sie Stanzchen. Stanzchen weiß, daß ich es Ihnen heute sagen wollte.«

Mein Vater antwortete nicht. Er ging hastig an einen Wandschrank, der Feile, Kneifzangen und allerlei Schlüssel enthielt. Dann rief er an der Tür heftig nach dem Buchhalter. Türen gingen, und als eben ein Bedienter Speisen hereintrug, hörten wir an einem Krach, daß im Kabinett neben dem Comptoir die Kasse erbrochen wurde.

Wir saßen wie Bildsäulen am Tische, ließen eine Speise nach der anderen abtragen und hatten weder den Mut, das Zimmer zu verlassen, noch darin zu bleiben.

Der Vater kam nicht wieder, auch zum Abendessen nicht, auch zum nächsten Mittagessen nicht, der Buchhalter ebensowenig.

Die jungen Kommis schlenderten im Hause umher, und wir merkten aus einzelnen Worten, daß Herr Steenwick für in wichtigen Geschäften verschickt galt; denn zum Nachfragen hatte keines von uns Mut.

Am zweiten Abend stürzte der Buchhalter aus dem Kabinett und rief: »Wasser! Um Gottes Willen, Wasser! Und geschwind zum Doktor Velten; der Herr hat einen Blutsturz bekommen.«

Madame und ich hörten das Geschrei auf unserem Zimmer, und ich weiß nicht, wie wir die Treppen hinuntergekommen sind, ich weiß nur, daß mein lieber Vater in seinem ledernen Arbeitssessel saß, bleich wie der Tod, die Augen halb gebrochen, ängstlich umherfahrend, und daß er mich noch mit einem langen, traurigen Blicke ansah, daß mich schauderte, als ich in einen Blutstrom trat, der uns schon auf dem Entree entgegenfloß.

Als Doktor Velten kam, war ich eine arme, verlassene Waise.

Von dem, was zunächst geschah, kann ich nur wenig sagen. Ich verstand das meiste nur

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