Ungekürztes Werk "Joseph" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 10)

in dem meinigen, und sie war zwar eine etwas förmliche Frau, aber immer voll Anstand und verwandtschaftlicher Rücksicht, und sie hat es mir sogar viel zu hoch angerechnet, als ich ihr nach meines Mannes Tode ihre durch unser Unglück erlittenen Verluste zu ersetzen suchte, was doch nicht mehr als meine allerstrengste Pflicht war.

Die Konferenz im Fenster war noch im besten Gange, als Herrn van Gehlen ein Besuch gemeldet wurde. Den Namen verstand ich nicht und benutzte diesen Augenblick, mich unbemerkt fortzuschleichen.

Im Vorzimmer traf ich den Fremden, einen kleinen, geistlich gekleideten, hageren Mann, der beschäftigt war, sich mit einem bunten Schnupftuche den Staub von den Ärmeln zu putzen. Er sah scharf auf, und seine ­Augen verfolgten mich bis in die Tür mit lebhafter Neugierde.

Hast du auch noch keine verarmte Waise gesehen? dachte ich. Nach einer halben Stunde, die mir unter großer Gemütsbewegung und unter Nachdenken über meine Schwester verging, ward ich heruntergerufen.

Ich fand die drei Herren zusammen. Mynheer van Gehlen und Herr Pell saßen vor dem Tisch und blätterten in dicken Papierstößen. Sie sahen rot und angegriffen aus. Herr Pell schlug die Augen nicht vom Papier auf. Van Gehlen lächelte verlegen und schien mir etwas sagen zu wollen, als der Fremde aus der Fensternische trat, meine beiden Hände ergriff und mit bewegter Stimme sagte: »Stanzchen, Stanzchen, ich bin dein Ohm. Hat dir denn Papa niemals von dem alten Herrn Ohm Pastor erzählt, dem alten Pastor in G.?«

Ich war ganz verwirrt; doch kamen mir einige dunkle Erinnerungen, obwohl mein Vater selten frühere Verhältnisse berührte.

So küßte ich dem Onkel die Hand und sah ihn auf eine Weise an, die ohne Zweifel etwas kümmerlich gewesen sein muß, denn er sagte: »Sei zufrieden, Kind; du sollst nicht nach Roeremonde. Du gehst mit mir«, und dann mit erhöhter Stimme, halb zu den anderen gewendet: »Wenn ich gleich keine feine Juffrouw erziehen kann, so sollst du doch rote Backen kriegen und auch nicht wild aufwachsen, wie eine Nessel im Hagen.«

Mynheer van Gehlen nickte zustimmend. Pell schlug seine Aktenstöße zu und sagte: »Wenn Euer Ehrwürden das so wollen – vorläufig wenigstens.«

»Ich will es an meinen Patron berichten! Vielleicht – sonst steht der Juffrouw Roeremonde alle Tage offen.«

Mein Ohm machte eine feierliche Verbeugung: »Gewiß, ja, wir lassen Mevrouw danken. Roeremonde steht alle Tage offen – aber Mevrouw muß mir das Kind lassen. Es ist meiner Schwester Kind, die ich sehr lieb gehabt habe, wenn sie auch nur meine Stiefschwester war.«

Niemand antwortete. Ich fühlte, daß hier irgendein drückendes Mißverständnis herrschte, und war froh, als mein Onkel gütig fortfuhr: »Nun, Stanzchen, ich kann aber nicht lange von Hause bleiben; pack deine Siebensachen und dann danke Mynheer und Mevrouw van Gehlen, daß sie dich armes, verlassenes Kind so treulich aufgenommen haben.«

Zwei Stunden darauf saßen wir im Wagen. So bin ich von Gent gekommen. Noch muß ich Ihnen sagen, daß Herr Steenwicks nicht, nachdem er des Vaters Kasse zum Teil verspielt, mit dem Überreste durchgegangen war, wie Sie ohne Zweifel glauben und auch jedermann damals glaubte.

Nach drei Wochen kam sein Leichnam auf in

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