Ungekürztes Werk "Ledwina" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 35)

uns im voraus mit dem Gedanken vertrauen, damit es nachher nicht zu schwer fällt. Weißt du wohl, daß es sündlich ist, aus eigener Schuld einem Geschicke unterliegen, das so allgemein getragen wird? Aber«, fuhr sie dann langsamer fort, »wenn ich mir das so denke, daß eine andere hier regiert an der Mutter Stelle und in dem Bette schläft, vor dem wir so oft gestanden und ihr eine gute Nacht gewünscht …«

Sie wandte sich unruhig nach allen Seiten umher.

»So wird es aber gar nicht kommen«, sagte Therese, »die Mutter wird wahrscheinlich hier bleiben. Karl ist ja so vernünftig; seine Wahl wird nicht leicht so schlimm ausfallen, daß die Mutter fortziehen müßte.«

»Aber wenn die Mutter nun tot ist?« versetzte Led­wina.

»Die Mutter«, sagte Therese wehmütig, »kann, gottlob, wohl länger leben wie wir.«

»Aber die Zeit kommt doch endlich«, unterbrach sie Ledwina. Dann legte sie sanft ihren Arm um Theresens Nacken und fuhr, noch an ihre Schulter gelehnt, leise und bekümmert fort: »O, Therese, auf unserem Boden stehen so viele alte Bilder aus der Familie, aber wir wissen doch fast von keinem recht, wen es vorstellt, und es sind doch alle unsere Voreltern und haben hier gewohnt, Gott weiß, in welchen Zimmern, und haben Geschwister und Kinder gehabt, die diese Bilder mit Freude und Verehrung betrachtet und bewahrt und vielleicht späterhin mit der teuersten, rührendsten Erinnerung, und nun? Wie sehen sie aus! Der alten Frau, du weißt wohl, mit der schwarzen Kappe, sind jetzt auch die Nase und die Augen ausgestoßen. Das ist gewiß absichtlich geschehen, weil sie eigentlich so häßlich aussieht.« Sie fuhr tief atmend fort: »Die Vergangenheit, die liebsten, teuersten Überbleibsel werden endlich mit Füßen getreten. Denk, wenn Mutter ihr Bild –«

Sie fing heftig an zu weinen und klammerte sich fest um ihre Schwester. Therese mußte sich gewaltsam innehalten; denn alle Fasern ihres Herzens schmerzten, aber sie hielt sich fest und sagte: »Ledwina, sei ruhig, schade dir nicht selber. Warum suchst du gewaltsam Gegenstände auf, die dich erschüttern und krank machen müssen? Nun bitte ich dich, wenn du mich lieb hast, so nimm dich zusammen und sprich und denk etwas anderes.«

Beide schwiegen. Ledwina stand auf und wandelte ein paarmal den Garten auf und nieder. Dann setzte sie sich wieder zu Therese, die über allerlei Dinge zu reden begann. Sie antwortete so, daß Therese sowohl ihren guten Willen als seine gänzliche Schwäche sehen mußte. Die Sonne begann sich zu neigen, und ihre milden Lichter tanzten durch die Zweige der Linde auf den Gewändern der Mädchen und Ledwinens leise bebendem Antlitz.

»Wie schön der Abend wird!« sagte Therese.

»Gestern um diese Stunde lebte der arme Klemens noch«, seufzte Ledwina.

»Suchst du wieder das Trübe?« sagte Therese sanft.

»Ist denn«, versetzte Ledwina beklemmt, »ein Tag Andenken zuviel für seiner Mutter einzigsten Trost? Hör mich an!«

Nun erzählte sie, wie sie an dem Flusse gewandelt, immer hinauf, kämpfend mit greulichen, sinnlosen Bildern, wie sie sich fast besiegt und umkehren wollen, nur noch diese eine Bucht vorüber, – und ein matter, flimmernder Schein sah durch dichte Brombeerranken aus dem Gewässer zu ihr herüber. Heimlich schaudernd nannte sie es den Widerschein der Sonne. Da wehten leichte Wolken herauf, das Sonnengold schwand vom Strome, und heller flammte das heimliche Licht durch die dunklen Blätter.

»Begreifst du wohl, Therese«, sagte sie, »daß ich an die Sagen dachte von Lichtern, die über den Versunkenen wachen? Indes ergab ich mich nicht und schritt rasch darauf zu; da flammte es hoch auf und schwand, und wie ich an das Gestrüppe trat, da war es die Laterne des armen Klemens, die, ausgebrannt und in die Ranken verschlungen, auf dem Wasser schwankte. Ich kniete an das Ufer und löste sie aus den Dornen, aber wie ich sie so kalt und naß und erloschen in der Hand hielt, da war es mir, als sei sie ein toter, erstarrter Teil des Verlorenen. Ich habe sie am Ufer stehen lassen.«

Sie drückte sich leise schaudernd an Theresen.

»Aber was ist denn das?« sagte sie und deutete auf den Boden.

»Was meinst du?« versetzte Therese.

»Mich dünkt, ich sehe mehr als die Schatten der Bäume.«

»Auch die unsrigen«, sagte Therese. – »Es wird nichts sein; hör zu, und wie ich zurückgehe und an das Sandloch komme, da sehe ich von weitem die alte Lisbeth aus ihrem Hause gehen. O, Therese, sie ist so klein geworden, ich hätte sie fast nicht erkannt. Sie ging lange vor mir, ohne mich zu sehen, sondern immer starr in das Wasser. Du weißt, sie ist immer so ordentlich. O Gott, sie sah so verstört aus. Die Hälfte ihrer grauen Haare hing unter der Mütze hervor. Ich konnte es nicht mehr aushalten und ging vorüber. Da schlug es Mittag im Dorfe, und die Betglocke begann zu läuten. Ich sagte im Vorübergehen: ›Gelobt sei Jesus Christus!‹ Sie sah nicht auf, sondern schloß die Hände zusammen und sagte: ›In alle Ewigkeit, in alle Ewigkeit, Amen‹, laut und oft nacheinander. Ich hörte es noch, wie ich schon eine Strecke von ihr war.«

»Gott wird sie trösten«, sagte Therese und sah bewegt vor sich nieder. Da war es ihr selber, als sähe sie durch den Schlagschatten der Bäume noch eine andere Gestalt lauschen. Sie sah rasch um sich, aber es war nichts.

»Es wird zu kühl für dich, Ledwina«, sagte sie aufstehend, und die von heimlichen Fieberschauern Durchbebte folgte ihr willig. Auf dem Hofe begegnete ihnen Karl. Therese ließ die Schwester vorangehen und teilte ihm ihre Bemerkung mit. Er schritt sogleich in den Garten, dann eilte sie der trauernd Wandelnden nach.

[Unvollendet]

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