Ungekürztes Werk "Ledwina" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 6)

ihre Sinne erst allmählich unter dem Reden geboren, »das ist wahr; wir sind doch Geschwister, aber ich bin leider gewiß, daß wir uns nicht mit dem raschen, unerschütterlichen Entschlusse, der keine Wahl kennt, füreinander aufzuopfern vermöchten, wie das Leben getreuer Diener uns so unzählige Beispiele gibt.«

Karl sah etwas quer nach ihr hinüber, und die liebe Therese reichte ihr versichernd die Hand, und beider Augen blickten sanft ineinander. Ledwina sagte fest: »Ja, Therese, es ist doch so, aber wir sind darum nicht schlechter; die Alten sind nur besser.«

»Dafür ist es auch Dienertreue«, hub Karl an, »und eine ganz besondere Sorte, ungefähr wie die Liebe gegen das Königshaus, dem sich auch jeder freudig opfert, ob auch die Äste gegen den schönen, alten Stamm zuweilen recht dürr oder siech abstechen; mir sind indes alte Leute immer merkwürdig, und ich rede vor allem gern mit ihnen; es ist mir seltsam, eine ganze in ihren Handlungen meistens unbedeutende Generation lange nach ihrem schon vergessenen Tod in ihrer oft so bedeutenden Persönlichkeit noch in diesen paar grauen verfallenden Denkmalen fortleben zu sehn, nicht zu gedenken, wenn man so glücklich ist, das lebende Monument irgendeines großen Geistes vergangener Zeit anzutreffen. Mir sind solche kleine Gemälde aus freier Hand immer lieber wie die schönste Galerie berühmter Biographien.«

»Mir scheint auch«, sagte Therese, »als ob die Lieblingsfehler der alten Leute fast wie die der Kinder zwar oft belästigend, aber doch im Grunde milder oder gleichsam oberflächlicher wären wie die der Jugend. Mangel an Rücksicht auf die Bequemlichkeit anderer ist das erste, was die Alten durch die allgemeine Sorgfalt, die ihnen zugewendet wird, und durch die bittere Vergleichung eigener Schwäche mit der Jugendkraft der Umgebung verleitet, annehmen, die Wurzel alles Fatalen, eine kleine Sünde, aber ein großes Leid für andere.«

»Das letztere ist wahr«, erwiderte Karl, »ohne das erstere zu begründen. Ich hingegen habe oft manche Jugendfehler im Alter in neuer Steigerung und vorzüglich wahrhaft unförmlicher Versteinerung wiedergefunden, die für mich bei dieser Nähe des Grabes eine der greulichsten Erscheinungen bleibt.«

Frau von Brenkfeld, noch aus der guten Zeit, wo man nicht nur die Eltern, sondern auch das Alter ehrte, einer Zeit, jetzt von dieser Ansicht so spurlos verschwunden, wie die antediluvianische, rückte mit dem Stuhle.

Karl fuhr arglos deklamierend fort: »Bei den Vornehmen der Ehrgeiz, dem man so leicht um des Großen willen das etwa nicht Gute vergibt, als die empörendste, ruchloseste Ehrsucht, bei dem Mittelstand die halb belachte, halb belobte Sparsamkeit als der greuliche Geiz, über den man nicht weiß, ob man über ihn mit Demokrit lachen oder mit Heraklit weinen soll, bei dem Geringen der oft angenehme Leichtsinn als die entsetzliche Gefühllosigkeit und Nichtachtung des sonst Nächsten und Liebsten; und oft alles zusammen in allen Ständen. Und wie sie überhaupt selten kindlich und gewöhnlich nur kindisch reden, so sind sie auch zuweilen kindisch und gemein vor lauter Malitiosität.«

Er fing wieder an, heftig auf und ab zu gehen.

»Alte Leute sind gut«, sagte Marie, die wieder neben der Mutter saß und ganz ordentlich strickte, und Frau von Brenkfeld mußte mitten aus ihrem gereizten

Seiten