Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 11)

Vansen: Ich hatte einen alten Patron, der besaß Pergamente und Briefe von uralten Stiftungen, Kontrakten und Gerechtigkeiten; er hielt auf die rarsten Bücher. In einem stund unsre ganze Verfassung: wie uns Niederländer zuerst einzelne Fürsten regierten, alles nach hergebrachten Rechten, Privilegien und Gewohnheiten; wie unsre Vorfahren alle Ehrfurcht für ihren Fürsten gehabt, wenn er sie regiert, wie er sollte; und wie sie sich gleich vorsahen, wenn er über die Schnur hauen wollte. Die Staaten waren gleich hinterdrein: denn jede Provinz, so klein sie war, hatte ihre Staaten, ihre Landstände.

Zimmermann: Haltet Euer Maul! das weiß man lang! Ein jeder rechtschaffner Bürger ist, soviel er braucht, von der Verfassung unterrichtet.

Jetter: Laßt ihn reden; man erfährt immer etwas mehr.

Soest: Er hat ganz recht.

Mehrere: Erzählt! erzählt! So was hört mau nicht alle Tage.

Vansen: So seid ihr Bürgersleute! Ihr lebt nur so in den Tag hin; und wie ihr euer Gewerb von euern Eltern überkommen habt, so laßt ihr auch das Regiment über euch schalten und walten, wie es kann und mag. Ihr fragt nicht nach dem Herkommen, nach der Historie, nach dem Recht eines Regenten; und über das Versäumnis haben euch die Spanier das Netz über die Ohren gezogen.

Soest: Wer denkt da dran? wenn einer nur das tägliche Brot hat.

Jetter: Verflucht! Warum tritt auch keiner in Zeiten auf und sagt einem so etwas?

Vansen: Ich sag es euch jetzt Der König in Spanien, der die Provinzen durch gut Glück zusammen besitzt, darf doch nicht drin schalten und walten anders als die kleinen Fürsten, die sie ehemals einzeln besaßen. Begreift ihr das?

Jetter: Erklärt’s uns!

Vansen: Es ist so klar als die Sonne. Müßt ihr nicht nach euern Landrechten gerichtet werden? Woher käme das?

Ein Bürger: Wahrlich!

Vansen: Hat der Brüsseler nicht ein ander Recht als der Antwerper? der Antwerper als der Genter? Woher käme denn das?

Andrer Bürger: Bei Gott!

Vansen: Aber wenn ihr’s so fort laufen laßt, wird man’s euch bald anders weisen. Pfui! Was Karl der Kühne, Friedrich der Krieger, Karl der Fünfte nicht konnten, das tut nun Philipp durch ein Weib.

Soest: Ja, ja! Die alten Fürsten haben’s auch schon probiert.

Vansen: Freilich! – Unsre Vorfahren paßten auf: wie sie einem Herren gram wurden, fingen sie ihm etwa seinen Sohn und Erben weg, hielten ihn bei sich und gaben ihn nur auf die besten Bedingungen heraus. Unsre Väter waren Leute! Die wußten, was ihnen nutz war! Die wußten etwas zu fassen und festzusetzen! Rechte Männer! Dafür sind aber auch unsre Privilegien so deutlich, unsre Freiheiten so versichert.

Seifensieder: Was sprecht Ihr von Freiheiten?

Das Volk: Von unsern Freiheiten, von unsern Privilegien! Erzählt noch was von unsern Privilegien.

Vansen: Wir Brabanter besonders, obgleich alle Provinzen ihre Vorteile haben, wir sind am herrlichsten versehen. Ich habe alles gelesen.

Soest: Sagt an!

Jetter: Laßt hören!

ein Bürger: Ich bitt Euch.

Vansen: Erstlich steht geschrieben: Der Herzog von Brabant soll uns ein guter und getreuer Herr sein.

Soest: Gut? Steht das so?

Jetter: Getreu? Ist das wahr?

Vansen: Wie ich euch sage. Er ist uns verpflichtet wie wir ihm. Zweitens: Er soll keine Macht oder eignen Willen an uns beweisen, merken lassen oder gedenken zu gestatten, auf keinerlei Weise.

Jetter: Schön! Schön! nicht beweisen.

Soest: Nicht merken lassen.

Ein Andrer: Und nicht gedenken zu gestatten! Das ist der Hauptpunkt. Niemand gestatten, auf keinerlei Weise.

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