Ungekürztes Werk "Faust 2" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 63)
Herrn und unsrer Frauen.
CHOR. Wie? dadrinnen?
PHORKYAS. Abgesondert
Von der Welt, nur mich, die Eine, riefen sie zu stillem Dienste.
Hochgeehrt stand ich zur Seite; doch wie es Vertrauten ziemet,
Schaut ich um nach etwas andrem, wendete mich hier- und dorthin,
Suchte Wurzeln, Moos und Rinden, kundig aller Wirksamkeiten:
Und so blieben sie allein.
CHOR.
Tust du doch, als ob dadrinnen ganze Weltenräume wären,
Wald und Wiese, Bäche, Seen! welche Märchen spinnst du ab!
PHORKYAS.
Allerdings, ihr Unerfahrnen! das sind unerforschte Tiefen:
Saal an Sälen, Hof an Höfen; diese spürt ich sinnend aus.
Doch auf einmal ein Gelächter echot in den Höhlenräumen;
Schau ich hin: da springt ein Knabe von der Frauen Schoß zum Manne,
Von dem Vater zu der Mutter! das Gekose, das Getändel,
Töriger Liebe Neckereien, Scherzgeschrei und Lustgejauchze
Wechselnd übertäuben mich.
Nackt, ein Genius ohne Flügel, faunenartig ohne Tierheit,
Springt er auf den festen Boden; doch der Boden, gegenwirkend,
Schnellt ihn zu der luftgen Höhe, und im zweiten, dritten Sprunge
Rührt er an das Hochgewölb.
Ängstlich ruft die Mutter: »Springe wiederholt und nach Belieben,
Aber hüte dich zu fliegen! freier Flug ist dir versagt.«
Und so mahnt der treue Vater: »In der Erde liegt die Schnellkraft,
Die dich aufwärts treibt; berühre mit der Zehe nur den Boden,
Wie der Erdensohn Antäus bist du alsobald gestärkt.«
Und so hüpft er auf die Masse dieses Felsens, von der Kante
Zu dem andern und umher so, wie ein Ball geschlagen springt.
Doch auf einmal in der Spalte rauher Schlucht ist er verschwunden,
Und nun scheint er uns verloren! Mutter jammert, Vater tröstet,
Achselzuckend steh ich ängstlich. Doch nun wieder welch Erscheinen!
Liegen Schätze dort verborgen? Blumenstreifige Gewande
Hat er würdig angetan.
Quasten schwanken von den Armen, Binden flattern um den Busen;
In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus,
Tritt er wohlgemut zur Kante, zu dem Überhang: wir staunen,
Und die Eltern vor Entzücken werfen wechselnd sich ans Herz.
Denn wie leuchtets ihm zu Haupten? Was erglänzt, ist schwer zu sagen:
Ist es Goldschmuck? ist es Flamme übermächtiger Geisteskraft?
Und so regt er sich gebärdend, sich als Knabe schon verkündend
Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodien
Durch die Glieder sich bewegen, und so werdet ihr ihn hören,
Und so werdet ihr ihn sehn zu einzigster Bewunderung.
CHOR. Nennst du ein Wunder dies,
Kretas Erzeugte?
Dichtend belehrendem Wort
Hast du gelauscht wohl nimmer?
Niemals noch gehört Joniens,
Nie vernommen auch Hellas
Urväterlicher Sagen
Göttlich-heldenhaften Reichtum?
Alles, was je geschieht
Heutigen Tages,
Trauriger Nachklang ists
Herrlicher Ahnherrntage!
Nicht vergleicht sich dein Erzählen
Dem, was liebliche Lüge,
Glaubhaftiger als Wahrheit,
Von dem Sohne sang der Maja.
Diesen zierlich und kräftig, doch
Kaum geborenen Säugling
Faltet in reinster Windeln Flaum,
Strenget in köstlicher Wickeln Schmuck
Klatschender Wärterinnen Schar,
Unvernünftigen Wähnens.
Kräftig und zierlich aber zieht
Schon der Schalk die geschmeidigen,
Doch elastischen Glieder
Listig heraus, die purpurne,
Ängstlich drückende Schale
Lassend ruhig an seiner Statt,
Gleich dem fertigen Schmetterling,
Der aus starrem Puppenzwang,
Flügel entfaltend, behendig schlüpft,
Sonne-durchstrahlten Äther kühn
Und mutwillig durchflatternd.