Ungekürztes Werk "Faust 2" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 66)

Leben eingerufen,

Heitrem Tag gegeben kaum,

Sehnest du von Schwindelstufen

Dich zu schmerzenvollem Raum.

Sind denn wir

Gar nichts dir?

Ist der holde Bund ein Traum?

EUPHORION. Und hört ihr donnern auf dem Meere?

Dort widerdonnern Tal um Tal,

In Staub und Wellen Heer dem Heere,

In Drang um Drang zu Schmerz und Qual!

Und der Tod

Ist Gebot:

Das versteht sich nun einmal.

HELENA, FAUST UND CHOR.

Welch Entsetzen! welches Grauen!

Ist der Tod denn dir Gebot?

EUPHORION. Sollt ich aus der Ferne schauen?

Nein, ich teile Sorg und Not!

DIE VORIGEN. Übermut und Gefahr!

Tödliches Los!

EUPHORION. Doch! – Und ein Flügelpaar

Faltet sich los!

Dorthin! Ich muß! ich muß!

Gönnt mir den Flug!

Er wirft sich in die Lüfte, die Gewande tragen ihn einen Augenblick,

sein Haupt strahlt, ein Lichtschweif zieht nach.

CHOR. Ikarus! Ikarus!

Jammer genug!

Ein schöner Jüngling stürzt zu der Eltern Füßen, man glaubt

in dem Toten eine bekannte Gestalt zu erblicken;

doch das Körperliche verschwindet sogleich, die Aureole steigt wie

ein Komet zum Himmel auf, Kleid, Mantel und Lyra bleiben liegen.

HELENA UND FAUST. Der Freude folgt sogleich

Grimmige Pein.

EUPHORIONS STIMME aus der Tiefe.

Laß mich im düstern Reich,

Mutter, mich nicht allein!

Pause.

CHOR, Trauergesang.

Nicht allein! – wo du auch weilest!

Denn wir glauben dich zu kennen;

Ach, wenn du dem Tag enteilest,

Wird kein Herz von dir sich trennen.

Wüßten wir doch kaum zu klagen,

Neidend singen wir dein Los:

Dir in klar- und trüben Tagen

Lied und Mut war schön und groß.

Ach, zum Erdenglück geboren,

Hoher Ahnen, großer Kraft,

Leider früh dir selbst verloren,

Jugendblüte weggerafft!

Scharfer Blick, die Welt zu schauen,

Mitsinn jedem Herzensdrang,

Liebesglut der besten Frauen

Und ein eigenster Gesang.

Doch du ranntest unaufhaltsam

Frei ins willenlose Netz:

So entzweitest du gewaltsam

Dich mit Sitte, mit Gesetz;

Doch zuletzt das höchste Sinnen

Gab dem reinen Mut Gewicht,

Wolltest Herrliches gewinnen,

Aber es gelang dir nicht.

Wem gelingt es? – Trübe Frage,

Der das Schicksal sich vermummt,

Wenn am unglückseligsten Tage

Blutend alles Volk verstummt.

Doch erfrischet neue Lieder,

Steht nicht länger tief gebeugt:

Denn der Boden zeugt sie wieder,

Wie von je er sie gezeugt.

Völlige Pause. Die Musik hört auf.

HELENA zu Faust.

Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir:

Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.

Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band;

Bejammernd beide, sag ich schmerzlich Lebewohl

Und werfe mich noch einmal in die Arme dir. –

Persephoneia, nimm den Knaben auf und mich!

Sie umarmt Faust, das Körperliche verschwindet,

Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen.

PHORKYAS zu Faust. Halte fest, was dir von allem übrigblieb!

Das Kleid, laß es nicht los! Da zupfen schon

Dämonen an den Zipfeln, möchten gern

Zur Unterwelt es reißen. Halte fest!

Die Göttin ists nicht mehr, die du verlorst,

Doch göttlich ists! Bediene dich der hohen,

Unschätzbarn Gunst und hebe dich empor:

Es trägt dich über alles Gemeine rasch

Am Äther hin, solange du dauern kannst. –

Wir sehn uns wieder, weit, gar weit

Seiten