Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 11)

Schmerz und durch Erinnerung

Sein Innerstes ergriffen und zerrüttet.

Ein fieberhafter Wahnsinn fällt ihn an,

Und seine schöne freie Seele wird

Den Furien zum Raube hingegeben.

Iphigenie:

So groß dein Unglück ist, beschwör ich dich:

Vergiß es, bis du mir genuggetan.

Pylades:

Die hohe Stadt, die zehen lange Jahre

Dem ganzen Heer der Griechen widerstand,

Liegt nun im Schutte, steigt nicht wieder auf.

Doch manche Gräber unsrer Besten heißen

Uns an das Ufer der Barbaren denken.

Achill liegt dort mit seinem schönen Freunde.

Iphigenie:

So seid ihr Götterbilder auch zu Staub!

Pylades:

Auch Palamedes, Ajax Telamons,

Sie sahn des Vaterlandes Tag nicht wieder.

Iphigenie:

Er schweigt von meinem Vater, nennt ihn nicht

Mit den Erschlagnen. Ja! er lebt mir noch!

Ich werd ihn sehn. O hoffe, liebes Herz!

Pylades: Doch selig sind die Tausende, die starben

Den bittersüßen Tod von Feindes Hand!

Denn wüste Schrecken und ein traurig Ende

Hat den Rückkehrenden statt des Triumphs

Ein feindlich aufgebrachter Gott bereitet.

Kommt denn der Menschen Stimme nicht zu euch?

So weit sie reicht, trägt sie den Ruf umher

Von unerhörten Taten, die geschahn.

So ist der Jammer, der Mykenens Hallen

Mit immer wiederholten Seufzern füllt,

Dir ein Geheimnis? – Klytämnestra hat

Mit Hülf Ägisthens den Gemahl berückt,

Am Tage seiner Rückkehr ihn ermordet! –

Ja, du verehrest dieses Königs Haus!

Ich seh es, deine Brust bekämpft vergebens

Das unerwartet ungeheure Wort.

Bist du die Tochter eines Freundes? bist

Du nachbarlich in dieser Stadt geboren?

Verbirg es nicht und rechne mir’s nicht zu,

Daß ich der erste diese Greuel melde.

Iphigenie:

Sag an, wie ward die schwere Tat vollbracht?

Pylades:

Am Tage seiner Ankunft, da der König,

Vom Bad erquickt und ruhig, sein Gewand

Aus der Gemahlin Hand verlangend, stieg,

Warf die Verderbliche ein faltenreich

Und künstlich sich verwirrendes Gewebe

Ihm auf die Schultern, um das edle Haupt;

Und da er wie von einem Netze sich

Vergebens zu entwickeln strebte, schlug

Ägisth ihn, der Verräter, und verhüllt

Ging zu den Toten dieser große Fürst.

Iphigenie:

Und welchen Lohn erhielt der Mitverschworne?

Pylades:

Ein Reich und Bette, das er schon besaß.

Iphigenie:

So trieb zur Schandtat eine böse Lust?

Pylades:

Und einer alten Rache tief Gefühl.

Iphigenie:

Und wie beleidigte der König sie?

Pylades:

Mit schwerer Tat, die, wenn Entschuldigung

Des Mordes wäre, sie entschuldigte.

Nach Aulis lockt’ er sie und brachte dort,

Als eine Gottheit sich der Griechen Fahrt

Mit ungestümen Winden widersetzte,

Die ältste Tochter, Iphigenien,

Vor den Altar Dianens, und sie fiel,

Ein blutig Opfer, für der Griechen Heil.

Dies, sagt man, hat ihr einen Widerwillen

So tief ins Herz geprägt, daß sie dem Werben

Ägisthens sich ergab und den Gemahl

Mit Netzen des Verderbens selbst umschlang.

Iphigenie sich verhüllend:

Es ist genug. Du wirst mich wiedersehn.

Pylades allein:

Von dem Geschick des Königshauses scheint

Sie tief gerührt. Wer sie auch immer sei,

So hat sie selbst den König wohl gekannt

Und ist, zu unserm Glück, aus hohem Hause

Hierher verkauft. Nur stille, liebes Herz,

Und laß dem Stern der Hoffnung, der uns blinkt,

Mit frohem Mut uns klug entgegensteuern.

DRITTER AUFZUG

Erster Auftritt

Iphigenie. Orest.

Iphigenie:

Unglücklicher, ich löse deine Bande

Zum Zeichen eines schmerzlichern Geschicks.

Die Freiheit, die das Heiligtum gewährt,

Ist, wie der letzte lichte Lebensblick

Des schwer Erkrankten, Todesbote. Noch

Kann ich es mir und darf es mir nicht sagen,

Daß ihr verloren seid! Wie könnt ich euch

Mit mörderischer Hand dem Tode weihen?

Und niemand, wer es sei, darf euer Haupt,

Solang ich Priesterin Dianens bin,

Berühren. Doch verweigr ich jene Pflicht,

Wie sie der aufgebrachte König fordert,

So wählt er eine meiner Jungfraun mir

Zur Folgerin, und ich

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