Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 9)

jahrelang durch Länder und Geschlechter

Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt.

Es klingt so schön, was unsre Väter taten,

Wenn es, in stillen Abendschatten ruhend,

Der Jüngling mit dem Ton der Harfe schlürft;

Und was wir tun, ist, wie es ihnen war,

Voll Müh und eitel Stückwerk!

So laufen wir nach dem, was vor uns flieht,

Und achten nicht des Weges, den wir treten,

Und sehen neben uns der Ahnherrn Tritte

Und ihres Erdelebens Spuren kaum.

Wir eilen immer ihrem Schatten nach,

Der göttergleich in einer weiten Ferne

Der Berge Haupt auf goldnen Wolken krönt.

Ich halte nichts von dem, der von sich denkt,

Wie ihn das Volk vielleicht erheben möchte.

Allein, o Jüngling, danke du den Göttern,

Daß sie so früh durch dich so viel getan.

Orest:

Wenn sie dem Menschen frohe Tat bescheren,

Daß er ein Unheil von den Seinen wendet,

Daß er sein Reich vermehrt, die Grenzen sichert

Und alte Feinde fallen oder fliehn:

Dann mag er danken! denn ihm hat ein Gott

Des Lebens erste, letzte Lust gegönnt.

Mich haben sie zum Schlächter auserkoren,

Zum Mörder meiner doch verehrten Mutter,

Und, eine Schandtat schändlich rächend, mich

Durch ihren Wink zugrund gerichtet. Glaube,

Sie haben es auf Tantals Haus gerichtet,

Und ich, der Letzte, soll nicht schuldlos, soll

Nicht ehrenvoll vergehn.

Pylades: Die Götter rächen

Der Väter Missetat nicht an dem Sohn;

Ein jeglicher, gut oder böse, nimmt

Sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg.

Et erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch.

Orest:

Uns führt ihr Segen, dünkt mich, nicht hierher.

Pylades:

Doch wenigstens der hohen Götter Wille.

Orest:

So ist’s ihr Wille denn, der uns verderbt.

Pylades:

Tu, was sie dir gebieten, und erwarte!

Bringst du die Schwester zu Apollen hin

Und wohnen beide dann vereint zu Delphi,

Verehrt von einem Volk, das edel denkt,

So wird für diese Tat das hohe Paar

Dir gnädig sein, sie werden aus der Hand

Der Unterird’schen dich erretten. Schon

In diesen heil’gen Hain wagt keine sich.

Orest:

So hab ich wenigstens geruh’gen Tod.

Pylades:

Ganz anders denk ich, und nicht ungeschickt

Hab ich das schon Geschehne mit dem Künft’gen

Verbunden und im stillen ausgelegt.

Vielleicht reift in der Götter Rat schon lange

Das große Werk. Diana sehnet sich

Von diesem rauhen Ufer der Barbaren

Und ihren blut’gen Menschenopfern weg.

Wir waren zu der schönen Tat bestimmt,

Uns wird sie auferlegt, und seltsam sind

Wir an der Pforte schon gezwungen hier.

Orest:

Mit seltner Kunst flichtst du der Götter Rat

Und deine Wünsche klug in eins zusammen.

Pylades:

Was ist des Menschen Klugheit, wenn sie nicht

Auf jener Willen droben achtend lauscht?

Zu einer schweren Tat beruft ein Gott

Den edeln Mann, der viel verbrach, und legt

Ihm auf, was uns unmöglich scheint, zu enden.

Es siegt der Held, und büßend dienet er

Den Göttern und der Welt, die ihn verehrt.

Orest:

Bin ich bestimmt, zu leben und zu handeln,

So nehm ein Gott von meiner schweren Stirn

Den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen,

Mit Mutterblut besprengten Pfade fort

Mich zu den Toten reißt. Er trockne gnädig

Die Quelle, die, mir aus der Mutter Wunden

Entgegensprudelnd, ewig mich befleckt.

Pylades:

Erwart es ruhiger! Du mehrst das Übel

Und nimmst das Amt der Furien auf dich.

Laß mich nur sinnen, bleibe still! Zuletzt,

Bedarf’s zur Tat vereinter Kräfte, dann

Ruf ich dich auf, und beide schreiten wir

Mit überlegter Kühnheit zur Vollendung.

Orest:

Ich hör Ulyssen reden!

Pylades: Spotte nicht!

Ein jeglicher muß seinen Helden wählen,

Dem er die Wege zum Olymp hinauf

Sich nacharbeitet. Laß es mich gestehn:

Mir scheinen List und Klugheit nicht

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