Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 7)

innerm Vorwurf

Die alten Opfer vorenthalten habe.

Kein Fremder nahet glücklich unserm Ufer:

Von alters her ist ihm der Tod gewiß.

Nur du hast mich mit einer Freundlichkeit,

In der ich bald der zarten Tochter Liebe,

Bald stille Neigung einer Braut zu sehn

Mich tief erfreute, wie mit Zauberbanden

Gefesselt, daß ich meiner Pflicht vergaß.

Du hattest mir die Sinnen eingewiegt,

Das Murren meines Volks vernahm ich nicht;

Nun rufen sie die Schuld von meines Sohnes

Frühzeit’gem Tode lauter über mich.

Um deinetwillen halt ich länger nicht

Die Menge, die das Opfer dringend fordert.

Iphigenie:

Um meinetwillen hab ich’s nie begehrt.

Der mißversteht die Himmlischen, der sie

Blutgierig wähnt; er dichtet ihnen nur

Die eignen grausamen Begierden an.

Entzog die Göttin mich nicht selbst dem Priester?

Ihr war mein Dienst willkommner als mein Tod.

Thoas:

Es ziemt sich nicht für uns, den heiligen

Gebrauch mit leicht beweglicher Vernunft

Nach unserm Sinn zu deuten und zu lenken.

Tu deine Pflicht, ich werde meine tun.

Zwei Fremde, die wir in des Ufers Höhlen

Versteckt gefunden und die meinem Lande

Nichts Gutes bringen, sind in meiner Hand.

Mit diesen nehme deine Göttin wieder

Ihr erstes, rechtes, lang entbehrtes Opfer!

Ich sende sie hierher; du weißt den Dienst.

Vierter Auftritt

Iphigenie allein:

Du hast Wolken, gnädige Retterin,

Einzuhüllen unschuldig Verfolgte

Und auf Winden dem ehrnen Geschick sie

Aus den Armen, über das Meer,

Über der Erde weiteste Strecken,

Und wohin es dir gut dünkt, zu tragen.

Weise bist du und siehest das Künftige;

Nicht vorüber ist dir das Vergangne,

Und dein Blick ruht über den Deinen,

Wie dein Licht, das Leben der Nächte,

Über der Erde ruhet und waltet.

O enthalte vom Blut meine Hände!

Nimmer bringt es Segen und Ruhe;

Und die Gestalt des zufällig Ermordeten

Wird auf des traurig-unwilligen Mörders

Böse Stunden lauern und schrecken.

Denn die Unsterblichen lieben der Menschen

Weit verbreitete gute Geschlechter,

Und sie fristen das flüchtige Leben

Gerne dem Sterblichen, wollen ihm gerne

Ihres eigenen, ewigen Himmels

Mitgenießendes fröhliches Anschaun

Eine Weile gönnen und lassen.

ZWEITER AUFZUG

Erster Auftritt

Orest. Pylades.

Orest:

Es ist der Weg des Todes, den wir treten:

Mit jedem Schritt wird meine Seele stiller.

Als ich Apollen bat, das gräßliche

Geleit der Rachegeister von der Seite

Mir abzunehmen; schien er Hülf und Rettung

Im Tempel seiner vielgeliebten Schwester,

Die über Tauris herrscht, mit hoffnungsreichen,

Gewissen Götterworten zu versprechen;

Und nun erfüllet sich’s, daß alle Not

Mit meinem Leben völlig enden soll.

Wie leicht wird’s mir, dem eine Götterhand

Das Herz zusammendrückt, den Sinn betäubt,

Dem schönen Licht der Sonne zu entsagen.

Und sollen Atreus’ Enkel in der Schlacht

Ein siegbekröntes Ende nicht gewinnen,

Soll ich wie meine Ahnen, wie mein Vater

Als Opfertier im Jammertode bluten:

So sei es! Besser hier vor dem Altar

Als im verworfnen Winkel, wo die Netze

Der nahverwandte Meuchelmörder stellt.

Laßt mir so lange Ruh, ihr Unterird’schen,

Die nach dem Blut ihr, das von meinen Tritten

Herniederträufelnd meinen Pfad bezeichnet,

Wie losgelaßne Hunde spürend hetzt!

Laßt mich, ich komme bald zu euch hinab;

Das Licht des Tags soll euch nicht sehn noch mich.

Der Erde schöner grüner Teppich soll

Kein Tummelplatz für Larven sein. Dort unten

Such ich euch auf: dort bindet alle dann

Ein gleich Geschick in ew’ge matte Nacht.

Nur dich, mein Pylades, dich, meiner Schuld

Und meines Banns unschuldigen Genossen,

Wie ungern nehm ich dich in jenes Trauerland

Frühzeitig mit! Dein Leben oder Tod

Gibt mir allein noch Hoffnung oder Furcht.

Pylades:

Ich bin noch nicht, Orest, wie du bereit,

In jenes Schattenreich hinabzugehn.

Ich sinne noch, durch die verworrnen Pfade,

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