Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 355)

mir auszusetzen?” fuhr Friedrich fort. “Bei einer neuen Kolonie werden auch junge Kolonisten erfordert, und die bring ich gleich mit; auch lustige Kolonisten, das versichre ich euch. Und dann wüßte ich noch ein gutes junges Mädchen, das hierhüben nicht mehr am Platz ist, die süße, reizende Lydie. Wo soll das arme Kind mit seinem Schmerz und Jammer hin, wenn sie ihn nicht gelegentlich in die Tiefe des Meeres werfen kann und wenn sich nicht ein braver Mann ihrer annimmt? Ich dächte, mein Jugendfreund, da Ihr doch im Gange seid, Verlassene zu trösten, Ihr entschlößt Euch, jeder nähme sein Mädchen unter den Arm, und wir folgten dem alten Herrn.”

Dieser Antrag verdroß Wilhelmen. Er antwortete mit verstellter Ruhe: “Weiß ich doch nicht einmal, ob sie frei ist, und da ich überhaupt im Werben nicht glücklich zu sein scheine, so möchte ich einen solchen Versuch nicht machen.”

Natalie sagte darauf: “Bruder Friedrich, du glaubst, weil du für dich so leichtsinnig handelst, auch für andere gelte deine Gesinnung. Unser Freund verdient ein weibliches Herz, das ihm ganz angehöre, das nicht an seiner Seite von fremden Erinnerungen bewegt werde; nur mit einem höchst vernünftigen und reinen Charakter wie Theresens war ein Wagestück dieser Art zu raten.”

“Was Wagestück!” rief Friedrich, “in der Liebe ist alles Wagestück. Unter der Laube oder vor dem Altar, mit Umarmungen oder goldenen Ringen, beim Gesange der Heimchen oder bei Trompeten und Pauken, es ist alles nur ein Wagestück, und der Zufall tut alles.”

“Ich habe immer gesehen”, versetzte Natalie, “daß unsere Grundsätze nur ein Supplement zu unsern Existenzen sind. Wir hängen unsern Fehlern gar zu gern das Gewand eines gültigen Gesetzes um. Gib nur acht, welchen Weg dich die Schöne noch führen wird, die dich auf eine so gewaltsame Weise angezogen hat und festhält.”

“Sie ist selbst auf einem sehr guten Wege”, versetzte Friedrich, “auf dem Wege zur Heiligkeit. Es ist freilich ein Umweg, aber desto lustiger und sichrer; Maria von Magdala ist ihn auch gegangen, und wer weiß, wieviel andere. Überhaupt, Schwester, wenn von Liebe die Rede ist, solltest du dich gar nicht dreinmischen. Ich glaube, du heiratest nicht eher, als bis irgendwo eine Braut fehlt, und du gibst dich alsdann nach deiner gewohnten Gutherzigkeit auch als Supplement irgendeiner Existenz hin. Also laß uns nur jetzt mit diesem Seelenverkäufer da unsern Handel schließen und über unsere Reisegesellschaft einig werden.”

“Sie kommen mit Ihren Vorschlägen zu spät”, sagte Jarno, “für Lydien ist gesorgt.”

“Und wie?” fragte Friedrich.

“Ich habe ihr selbst meine Hand angeboten”, versetzte Jarno.

“Alter Herr”, sagte Friedrich, “da macht Ihr einen Streich, zu dem man, wenn man ihn als ein Substantivum betrachtet, verschiedene Adjektiva, und folglich, wenn man ihn als Subjekt betrachtet, verschiedene Prädikate finden könnte.”

“Ich muß aufrichtig gestehen”, versetzte Natalie, “es ist ein gefährlicher Versuch, sich ein Mädchen zuzueignen in dem Augenblicke, da sie aus Liebe zu einem andern verzweifelt.”

“Ich habe es gewagt”, versetzte Jarno, “sie wird unter einer gewissen Bedingung mein. Und glauben Sie mir, es ist in der Welt nichts schätzbarer als ein Herz, das der Liebe und der Leidenschaft fähig ist.

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