Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 356)

Ob es geliebt habe, ob es noch liebe, darauf kommt es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer geliebt wird, ist mir beinahe reizender als die, mit der ich geliebt werden könnte; ich sehe die Kraft, die Gewalt eines schönen Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den reinen Anblick trübt.”

“Haben Sie Lydien in diesen Tagen schon gesprochen?” versetzte Natalie.

Jarno nickte lächelnd; Natalie schüttelte den Kopf und sagte, indem sie aufstand: “Ich weiß bald nicht mehr, was ich aus euch machen soll, aber mich sollt ihr gewiß nicht irremachen.”

Sie wollte sich eben entfernen, als der Abbé mit einem Brief in der Hand hereintrat und zu ihr sagte: “Bleiben Sie! Ich habe hier einen Vorschlag, bei dem Ihr Rat willkommen sein wird. Der Marchese, der Freund Ihres verstorbenen Oheims, den wir seit einiger Zeit erwarten, muß in diesen Tagen hier sein. Er schreibt mir, daß ihm doch die deutsche Sprache nicht so geläufig sei, als er geglaubt, daß er eines Gesellschafters bedürfe, der sie vollkommen nebst einigem andern besitze; da er mehr wünsche, in wissenschaftliche als politische Verbindungen zu treten, so sei ihm ein solcher Dolmetscher unentbehrlich. Ich wüßte niemand geschickter dazu als unsern jungen Freund. Er kennt die Sprache, ist sonst in vielem unterrichtet, und es wird für ihn selbst ein großer Vorteil sein, in so guter Gesellschaft und unter so vorteilhaften Umständen Deutschland zu sehen. Wer sein Vaterland nicht kennt, hat keinen Maßstab für fremde Länder. Was sagen Sie, meine Freunde? Was sagen Sie, Natalie?”

Niemand wußte gegen den Antrag etwas einzuwenden; Jarno schien seinen Vorschlag, nach Amerika zu reisen, selbst als kein Hindernis anzusehn, indem er ohnehin nicht sogleich aufbrechen würde; Natalie schwieg, und Friedrich führte verschiedene Sprüchwörter über den Nutzen des Reisens an.

Wilhelm war über diesen neuen Vorschlag im Herzen so entrüstet, daß er es kaum verbergen konnte. Er sah eine Verabredung, ihn baldmöglichst loszuwerden, nur gar zu deutlich, und was das Schlimmste war, man ließ sie so offenbar, so ganz ohne Schonung sehen. Auch der Verdacht, den Lydie bei ihm erregt, alles, was er selbst erfahren hatte, wurde wieder aufs neue vor seiner Seele lebendig, und die natürliche Art, wie Jarno ihm alles ausgelegt hatte, schien ihm auch nur eine künstliche Darstellung zu sein.

Er nahm sich zusammen und antwortete: “Dieser Antrag verdient allerdings eine reifliche Überlegung.”

“Eine geschwinde Entschließung möchte nötig sein”, versetzte der Abbé.

“Dazu bin ich jetzt nicht gefaßt”, antwortete Wilhelm. “Wir können die Ankunft des Mannes abwarten und dann sehen, ob wir zusammen passen. Eine Hauptbedingung aber muß man zum voraus eingehen: daß ich meinen Felix mitnehmen und ihn überall mit hinführen darf.”

“Diese Bedingung wird schwerlich zugestanden werden”, versetzte der Abbé.

“Und ich sehe nicht”, rief Wilhelm aus, “warum ich mir von irgendeinem Menschen sollte Bedingungen vorschreiben lassen und warum ich, wenn ich einmal mein Vaterland sehen will, einen Italiener zur Gesellschaft brauche.”

“Weil ein junger Mensch”, versetzte der Abbé mit einem gewissen imponierenden Ernste, “immer Ursache hat, sich anzuschließen.”

Wilhelm, der wohl merkte, daß er länger an sich zu halten nicht imstande sei, da sein Zustand nur durch

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