Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 376)

unterrichtete den Arzt von allem, was indessen entdeckt worden war, und man beschloß, gegen Augustin das tiefste Stillschweigen zu beobachten. Der Abbé nahm sich vor, ihn nicht von seiner Seite zu lassen und ihn auf dem guten Wege, den er betreten hatt, fortzuführen.

Indessen sollte Wilhelm die Reise durch Deutschland mit dem Marchese vollenden. Schien es möglich, Augustinen eine Neigung zu seinem Vaterlande wieder einzuflößen, so wollte man seinen Verwandten den Zustand entdecken, und Wilhelm sollte ihn den Seinigen wieder zuführen.

Dieser hatte nun alle Anstalten zu seiner Reise gemacht, und wenn es im Anfang wunderbar schien, daß Augustin sich freute, als er vernahm, wie sein alter Freund und Wohltäter sich sogleich wieder entfernen sollte, so entdeckte doch der Abbé bald den Grund dieser seltsamen Gemütsbewegung. Augustin konnte seine alte Furcht, die er vor Felix hatte, nicht überwinden und wünschte den Knaben je eher je lieber entfernt zu sehen.

Nun waren nach und nach so viele Menschen angekommen, daß man sie im Schloß und in den Seitengebäuden kaum alle unterbringen konnte, um so mehr, als man nicht gleich anfangs auf den Empfang so vieler Gäste die Einrichtung gemacht hatte. Man frühstückte, man speiste zusammen und hätte sich gern beredet, man lebe in einer vergnüglichen Übereinstimmung, wenn schon in der Stille die Gemüter sich gewissermaßen auseinandersehnten. Therese war manchmal mit Lothario, noch öfter allein ausgeritten, sie hatte in der Nachbarschaft schon alle Landwirte und Landwirtinnen kennenlernen; es war ihr Haushaltungsprinzip, und sie mochte nicht unrecht haben, daß man mit Nachbarn und Nachbarinnen im besten Vernehmen und immer in einem ewigen Gefälligkeitswechsel stehen müsse. Von einer Verbindung zwischen ihr und Lothario schien gar die Rede nicht zu sein, die beiden Schwestern hatten sich viel zu sagen, der Abbé schien den Umgang des Harfenspielers zu suchen, Jarno hatte mit dem Arzt öftere Konferenzen, Friedrich hielt sich an Wilhelmen, und Felix war überall, wo es ihm gut ging. So vereinigten sich auch meistenteils die Paare auf dem Spaziergang, indem die Gesellschaft sich trennte, und wenn sie zusammen sein mußten, so nahm man geschwind seine Zuflucht zur Musik, um alle zu verbinden, indem man jeden sich selbst wiedergab.

Unversehens vermehrte der Graf die Gesellschaft, seine Gemahlin abzuholen und, wie es schien, einen feierlichen Abschied von seinen weltlichen Verwandten zu nehmen. Jarno eilte ihm bis an den Wagen entgegen, und als der Ankommende fragte, was er für Gesellschaft finde, so sagte jener in einem Anfall von toller Laune, die ihn immer ergriff, sobald er den Grafen gewahr ward: “Sie finden den ganzen Adel der Welt beisammen, Marchesen, Marquis, Mylords und Baronen, es hat nur noch an einem Grafen gefehlt.” So ging man die Treppe hinauf, und Wilhelm war die erste Person, die ihm im Vorsaal entgegenkam. “Mylord!” sagte der Graf zu ihm auf Französisch, nachdem er ihn einen Augenblick betrachtet hatte, “ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft unvermutet zu erneuern; denn ich müßte mich sehr irren, wenn ich Sie nicht im Gefolge des Prinzen sollte in meinem Schlosse gesehen haben.” – “Ich hatte das Glück, Euer Exzellenz damals aufzuwarten”, verstezte

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