Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 377)

Wilhelm, “nur erzeigen Sie mir zuviel Ehre, wenn Sie mich für einen Engländer, und zwar vom ersten Range halten; ich bin ein Deutscher, und” – “zwar ein sehr braver junger Mann”, fiel Jarno sogleich ein. Der Graf sah Wilhelmen lächelnd an und wollte eben etwas erwidern, als die übrige Gesellschaft herbeikam und ihn aufs freundlichste begrüßte. Man entschuldigte sich, daß man ihm nicht sogleich ein anständiges Zimmer anweisen könne, und versprach, den nötigen Raum ungesäumt zu verschaffen.

“Ei ei!” sagte er lächelnd, “ich sehe wohl, daß man dem Zufalle überlassen hat, den Furierzettel zu machen; mit Vorsicht und Einrichtung, wie viel ist da nicht möglich! Jetzt bitte ich euch, rührt mir keinen Pantoffel vom Platze, denn sonst, seh ich wohl, gibt es eine große Unordnung. Jedermann wird unbequem wohnen, und das soll niemand um meinetwillen womöglich auch nur eine Stunde. Sie waren Zeuge”, sagte er zu Jarno, “und auch Sie, Mister”, indem er sich zu Wilhelmen wandte, “wie viele Menschen ich damals auf meinem Schlosse bequem untergebracht habe. Man gebe mir die Liste der Personen und Bedienten, man zeige mir an, wie jedermann gegenwärtig einquartiert ist, ich will einen Dislokationsplan machen, daß mit der wenigsten Bemühung jedermann eine geräumige Wohnung finde und daß noch Platz für einen Gast bleiben soll, der sich zufälligerweise bei uns einstellen könnte.”

Jarno machte sogleich den Adjutanten des Grafen, verschaffte ihm alle nötigen Notizen und hatte nach seiner Art den größten Spaß, wenn er den alten Herrn mitunter irremachen konnte. Dieser gewann aber bald einen großen Triumph. Die Einrichtung war fertig, er ließ in seiner Gegenwart die Namen über alle Türen schreiben, und man konnte nicht leugnen, daß mit wenig Umständen und Veränderungen der Zweck völlig erreicht war. Auch hatte es Jarno unter anderm so geleitet, daß die Personen, die in dem gegenwärtigen Augenblick ein Interesse aneinander nahmen, zusammen wohnten.

Nachdem alles eingerichtet war, sagte der Graf zu Jarno: “Helfen Sie mir auf die Spur wegen des jungen Mannes, den Sie da Meister nennen und der ein Deutscher sein soll.” Jarno schwieg still, denn er wußte recht gut, daß der Graf einer von denen Leuten war, die, wenn sie fragen, eigentlich belehren wollen; auch fuhr dieser, ohne Antwort abzuwarten, in seiner Rede fort: “Sie hatten mir ihn damals vorgestellt und im Namen des Prinzen bestens empfohlen. Wenn seine Mutter auch eine Deutsche war, so hafte ich dafür, daß sein Vater ein Engländer ist, und zwar von Stande; wer wollte das englische Blut alles berechnen, das seit dreißig Jahren in deutschen Adern herumfließt! Ich will weiter nicht darauf dringen, ihr habt immer solche Familiengeheimnisse; doch mir wird man in solchen Fällen nichts aufbinden.” Darauf erzählte er noch verschiedenes, was damals mit Wilhelmen auf seinem Schloß vorgegangen sein sollte, wozu Jarno gleichfalls schwieg, obgleich der Graf ganz irrig war und Wilhelmen mit einem jungen Engländer in des Prinzen Gefolge mehr als einmal verwechselte. Der gute Herr hatte in frühern Zeiten ein vortreffliches Gedächtnis gehabt und war noch immer stolz darauf, sich der geringsten Umstände seiner Jugend erinnern zu können; nun

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