Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 378)

bestimmte er aber mit ebender Gewißheit wunderbare Kombinationen und Fabeln als wahr, die ihm bei zunehmender Schwäche seines Gedächtnisses seine Einbildungskraft einmal vorgespiegelt hatte. Übrigens war er sehr mild und gefällig geworden, und seine Gegenwart wirkte recht günstig auf die Gesellschaft. Er verlangte, daß man etwas Nützliches zusammen lesen sollte, ja sogar gab er manchmal kleine Spiele an, die er, wo nicht mitspielte, doch mit großer Sorgfalt dirigierte, und da man sich über seine Herablassung verwunderte, sagte er: es sei die Pflicht eines jeden, der sich in Hauptsachen von der Welt entferne, daß er in gleichgültigen Dingen sich ihr desto mehr gleichstelle.

Wilhelm hatte unter diesen Spielen mehr als einen bänglichen und verdrießlichen Augenblick; der leichtsinnige Friedrich ergriff manche Gelegenheit, um auf eine Neigung Wilhelms gegen Natalien zu deuten. Wie konnte er darauf fallen? wodurch war er dazu berechtigt? Und mußte nicht die Gesellschaft glauben, daß, weil beide viel miteinander umgingen, Wilhelm ihm eine so unvorsichtige und unglückliche Konfidenz gemacht habe?

Eines Tages waren sie bei einem solchen Scherze heiterer als gewöhnlich, als Augustin auf einmal zur Türe, die er aufriß, mit gräßlicher Gebärde hereinstürzte; sein Angesicht war blaß, sein Auge wild, er schien reden zu wollen, die Sprache versagte ihm. Die Gesellschaft entsetzte sich, Lothario und Jarno, die eine Rückkehr des Wahnsinns vermuteten, sprangen auf ihn los und hielten ihn fest. Stotternd und dumpf, dann heftig und gewaltsam sprach und rief er: “Nicht mich haltet, eilt! helft! rettet das Kind! Felix ist vergiftet!”

Sie ließen ihn los, er eilte zur Türe hinaus, und voll Entsetzen drängte sich die Gesellschaft ihm nach. Man rief nach dem Arzte, Augustin richtete seine Schritte nach dem Zimmer des Abbés, man fand das Kind, das erschrocken und verlegen schien, als man ihm schon von weitem zurief: “Was hast du angefangen?”

“Lieber Vater!” rief Felix, “ich habe nicht aus der Flasche, ich habe aus dem Glase getrunken, ich war so durstig.”

Augustin schlug die Hände zusammen, rief: “Er ist verloren!”, drängte sich durch die Umstehenden und eilte davon.

Sie fanden ein Glas Mandelmilch auf dem Tische stehen und eine Karaffine darneben, die über die Hälfte leer war; der Arzt kam, er erfuhr, was man wußte, und sah mit Entsetzen das wohlbekannte Fläschchen, worin sich das flüssige Opium befunden hatte, leer auf dem Tische liegen; er ließ Essig herbeischaffen und rief alle Mittel seiner Kunst zu Hülfe.

Natalie ließ den Knaben in ein Zimmer bringen, sie bemühte sich ängstlich um ihn. Der Abbé war fortgerannt, Augustinen aufzusuchen und einige Aufklärungen von ihm zu erdringen. Ebenso hatte sich der unglückliche Vater vergebens bemüht und fand, als er zurückkam, auf allen Gesichtern Bangigkeit und Sorge. Der Arzt hatte indessen die Mandelmilch im Glase untersucht, es entdeckte sich die stärkste Beimischung von Opium; das Kind lag auf dem Ruhebette und schien sehr krank, es bat den Vater, daß man ihm nur nichts mehr einschütten, daß man es nur nicht mehr quälen möchte. Lothar hatte seine Leute ausgeschickt und war selbst weggeritten, um der Flucht Augustins auf die Spur zu kommen. Natalie saß bei dem Kinde, es

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