Interpretation "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)
Klärchen gegenüber erzählt Egmont von der Regentin und enthüllt damit seine eigene Haltung: "Ich mache ihr viel zu schaffen, weil sie hinter meinem Betragen immer Geheimnisse sucht, und ich keine habe." (III, Klärchens Wohnung).
Beide Charaktereigenschaften, seine Ehrlichkeit und seine Weigerung zu "sinnen", d. h., hinter den Erscheinungen noch etwas Geheimes zu vermuten, besitzen eine fatale Kehrseite: seine Unfähigkeit, die Dinge in ihrer wahren Gestalt zu sehen. Weil in seiner eigenen Haltung Schein und Sein zusammenfallen, ist er nicht in der Lage, bei anderen diese Differenz wahrzunehmen. Das macht ihn zu einem ausgesprochen schlechten Beobachter und Menschenkenner. Im Dialog mit Oranien (II, Egmonts Wohnung) wird Egmonts Defizit an Psychologie besonders deutlich:
"EGMONT: Willkommen, Oranien. Ihr scheint mir nicht ganz frei.
ORANIEN: Was sagt Ihr zu unserer Unterhaltung mit der Regentin?
EGMONT: Ich fand in ihrer Art, uns aufzunehmen, nichts Außerordentliches. Ich habe sie schon mehr so gesehen. Sie schien mir nicht ganz wohl.
ORANIEN: Merktet Ihr nicht, daß sie zurückhaltender war? erst wollte sie unser Betragen bei dem neuen Aufruhr des Pöbels gelassen billigen; nachher merkte sie an, was sich auch für ein falsches Licht darauf werfen lasse; wich dann mit dem Gespräche zu ihrem alten gewöhnlichen Diskurs [...]. Habt ihr das gehört?
EGMONT: Nicht alles; ich dachte unterdessen an was anders."
Während Oranien eine geradezu psychologische Analyse des Gesprächs liefert, hat Egmont "nichts Außerordentliches" bemerkt, deutet eine hochpolitische Verstimmung als Unwohlsein und hat im übrigen gar nicht genau zugehört. Natürlich kommen hier auch das Selbstvertrauen Egmonts einerseits, die Unsicherheit Oraniens andererseits zum Ausdruck. Egmont meint, es gar nicht nötig zu haben, sich das Gerede von einem "Weib, das keinen Weg [hat] als launisch zu werden", anzuhören.