Interpretation "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 5)

In diesen Antworten Egmonts auf die Vorstellungen seines Sekretärs kommt eine Abwehrhaltung gegenüber jeder Art von Problemen zum Ausdruck, modern würde man sagen: hier ist ein Verdrängungsmechanismus am Werk, der es Egmont ermöglicht, wie ein "Nachtwandler [...] auf dem gefährlichen Gipfel eines Hauses" (ebenda) zu spazieren. Derselbe Verdrängungsmechanismus setzt ein, als Oranien ihn vor der Einladung Albas gewarnt hat:

"EGMONT (allein): Daß andrer Menschen Gedanken solchen Einfluß auf uns haben! Mir wär' es nie eingekommen; und dieser Mann trägt seine Sorglichkeit in mich herüber. – Weg! – Das ist ein fremder Tropfen in meinem Blute. Gute Natur wirf ihn wieder heraus! Und von meiner Stirne die sinnenden Runzeln wegzubaden, gibt es ja wohl noch ein freundlich Mittel." (II, Egmonts Wohnung)

Beim Wegwischen seiner Probleme ist ihm seine Geliebte Klärchen das "freundlich Mittel". Bei ihr kann er ganz er selbst sein: "Aber dieser, Klärchen, der ist ruhig, offen, glücklich, geliebt und gekannt von dem besten Herzen [...]." So rettet Egmont durch den Rückzug ins Private ("Da ist gut, daß wir die Freude zu Hause haben und sie nicht von auswärts zu erwarten brauchen", hatte es schon in der Sekretärsszene geheißen) seine durch die Politik bedrohte Identität. Dies berührt aber eine tiefere Schicht des Dramas, die über die Problematik des Charakters im psychologischen Sinn hinausgeht. In ihr wendet sich Egmonts Unfähigkeit zur Unterscheidung von Schein und Sein – letztlich seine Unfähigkeit zur Politik – im Begriff der Identität ins Positive. Indem er in geradezu naivem Vertrauen auf seine Unantastbarkeit – das Goldene Vlies ist Symbol dafür – Alba in die Falle geht, handelt er politisch unklug, doch bleibt er sich selbst damit treu. Dass er bis zum Schluss nicht einsehen will, dass er verloren ist – er hofft bis fast zum letzten Augenblick auf Rettung wie ein Spieler, der eisern seinem Glück vertraut –, zeigt ihn als mit sich selbst identischen Menschen. So gerne er gelebt hat – "Süßes Leben! [...] von dir soll ich scheiden!" –, so willig akzeptiert er dann doch angesichts der neuen Freundschaft mit Ferdinand den Tod:

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