Ungekürztes Werk "Minna von Barnhelm" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 22)

herabreißen. Aber er wand sich noch los. Das Fräulein blieb an der obersten Schwelle stehn, sah ihm nach, rief ihm nach, rang die Hände. Auf einmal wandte sie sich um, lief nach dem Fenster, von dem Fenster wieder zur Treppe, von der Treppe in dem Saale hin und wider. Hier stand ich, hier ging sie dreimal bei mir vorbei, ohne mich zu sehen. Endlich war es, als ob sie mich sähe, aber, Gott sei bei uns! ich glaube, das Fräulein sahe mich für Sie an, mein Kind. »Franziska«, rief sie, die Augen auf mich gerichtet, »bin ich nun glücklich?« Darauf sahe sie steif an die Decke und wiederum: »Bin ich nun glücklich?« Darauf wischte sie sich Tränen aus dem Auge und lächelte und fragte mich wiederum: »Franziska, bin ich nun glücklich?« – Wahrhaftig, ich wußte nicht, wie mir war. Bis sie nach ihrer Türe lief, da kehrte sie sich nochmals nach mir um: »So komm doch, Franziska; wer jammert dich nun?« – Und damit hinein.

FRANZISKA. Oh, Herr Wirt, das hat Ihnen geträumt.

DER WIRT. Geträumt? Nein, mein schönes Kind, so umständlich träumt man nicht. – Ja, ich wollte wieviel drum geben – ich bin nicht neugierig – aber ich wollte wieviel drum geben, wenn ich den Schlüssel dazu hätte.

FRANZISKA. Den Schlüssel? zu unsrer Türe? Herr Wirt, der steckt innerhalb; wir haben ihn zur Nacht hereingezogen; wir sind furchtsam.

DER WIRT. Nicht so einen Schlüssel; ich will sagen, mein schönes Kind, den Schlüssel, die Auslegung gleichsam, so den eigentlichen Zusammenhang von dem, was ich gesehen. –

FRANZISKA. Ja so! – Nun, adieu, Herr Wirt. Werden wir bald essen, Herr Wirt?

DER WIRT. Mein schönes Kind, nicht zu vergessen, was ich eigentlich sagen wollte.

FRANZISKA. Nun? aber nur kurz –

DER WIRT. Das gnädige Fräulein hat noch meinen Ring; ich nenne ihn meinen –

FRANZISKA. Er soll Ihnen unverloren sein.

DER WIRT. Ich trage darum auch keine Sorge; ich will's nur erinnern. Sieht Sie, ich will ihn gar nicht einmal wiederhaben. Ich kann mir doch wohl an den Fingern abzählen, woher sie den Ring kannte, und woher er dem ihrigen so ähnlich sah. Er ist in ihren Händen am besten aufgehoben. Ich mag ihn gar nicht mehr und will indes die hundert Pistolen, die ich darauf gegeben habe, auf des gnädigen Fräuleins Rechnung setzen. Nicht so recht, mein schönes Kind?

Vierter Auftritt

Paul Werner. Der Wirt. Franziska.

WERNER. Da ist er ja!

FRANZISKA. Hundert Pistolen? Ich meinte, nur achtzig.

DER WIRT. Es ist wahr, nur neunzig, nur neunzig. Das will ich tun mein schönes Kind, das will ich tun.

FRANZISKA. Alles das wird sich finden, Herr Wirt.

Werner (der ihnen hinterwärts näher kömmt und auf einmal der Franziska auf die Schulter klopft). Frauenzimmerchen! Frauenzimmerchen!

Franziska (erschrickt). He!

WERNER. Erschrecke Sie nicht! – Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, ich sehe, Sie ist hübsch und ist wohl gar fremd – Und hübsche fremde Leute müssen gewarnet werden – Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, nehm Sie sich vor dem Manne in acht! (Auf den Wirt zeigend.)

DER WIRT. Je, unvermutete Freude! Herr Paul Werner! Willkommen bei uns, willkommen! – Ah, es ist doch immer noch der lustige,

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