Ungekürztes Werk "Galgenlieder" von Christian Morgenstern (Seite 11)
geht sinnend durch den Wald.
Eine Stimmung
aus dem vierten Kreis
Zwei Hände, die so weiß, so weiß
als wie ein schlohweiß Laken,
vereinten sich im vierten Kreis,
während sie sonst gewohnterweis
in zwei verschiednen Taschen staken.
Sie zitterten, jedoch nur leis,
als ob sie vor sich selbst erschraken,
sie fühlten sich auf fremdem Gleis,
und dennoch taten sie mit Fleiß
sich ineinander haken.
Die zwei Wurzeln
Zwei Tannenwurzeln groß und alt
unterhalten sich im Wald.
Was droben in den Wipfeln rauscht,
das wird hier unten ausgetauscht.
Ein altes Eichhorn sitzt dabei
und strickt wohl Strümpfe für die zwei.
Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag.
Das ist genug für einen Tag.
Das Geburtslied oder:
Die Zeichen oder:
Sophie und kein Ende
Ein Kindelein
im Windelein
heut macht es noch ins Bindelein;
doch um das Haus
o Graus o Graus
da blasen böse Windelein.
»Ein Mädelein«
rufts Hedelein
und kneift ihm in die Wädelein.
Doch an dem Haus
o Graus o Graus
da wackeln alle Lädelein.
Ein Eulelein
schiebts Mäulelein
vorbei am Fenstersäulelein.
Es ruft ins Haus
o Graus o Graus
hört ihr die Silbergäulelein.
Ein Würmelein
im Stürmelein
fliegt nieder von dem Türmelein.
Es ruft o Graus:
»Es regnet drauß
so gebt mir doch ein Schirmelein.«
O Kindelein
im Windelein
heut machst du noch ins Bindelein.
Doch gehst du aus
im langen Flaus
wirst du ein Vagabündel sein.
Galgenkindes Wiegenlied
Schlaf, Kindlein, schlaf,
am Himmel steht ein Schaf;
das Schaf, das ist aus Wasserdampf
und kämpft wie du den Lebenskampf.
Schlaf, Kindlein, schlaf.
Schlaf, Kindlein, schlaf,
die Sonne frißt das Schaf,
sie leckt es weg vom blauen Grund
mit langer Zunge wie ein Hund.
Schlaf, Kindlein, schlaf.
Schlaf, Kindlein, schlaf.
Nun ist es fort, das Schaf.
Es kommt der Mond und schilt sein Weib;
die läuft ihm weg, das Schaf im Leib.
Schlaf, Kindlein, schlaf.
Wie sich das Galgenkind
die Monatsnamen merkt
Jaguar
Zebra
Nerz
Mandrill
Maikäfer
Pony
Muli
Auerochs
Wespenbär
Locktauber
Robbenbär
Zehenbär
Der Purzelbaum
Ein Purzelbaum trat vor mich hin
und sagte: »Du nur siehst mich
und weißt, was für ein Baum ich bin:
Ich schieße nicht, man schießt mich.
Und trag ich Frucht? Ich glaube kaum;
auch bin ich nicht verwurzelt.
Ich bin nur noch ein Purzeltraum,
sobald ich hingepurzelt.«
»Je nun,« so sprach ich, »bester Schatz,
du bist doch klug und siehst uns: –
nun, auch für uns besteht der Satz:
Wir schießen nicht, es schießt uns.
Auch Wurzeln treibt man nicht so bald
und Früchte nun erst recht nicht.
Geh heim in deinen Purzelwald,
und lästre dein Geschlecht nicht.«
Palmström
Palmström
Palmström steht an einem Teiche
und entfaltet groß ein rotes Taschentuch:
Auf dem Tuch ist eine Eiche
dargestellt sowie ein Mensch mit einem Buch.
Palmström wagt nicht, sich hineinzuschneuzen.
Er gehört zu jenen Käuzen,
die oft unvermittelt-nackt
Ehrfurcht vor dem Schönen packt.
Zärtlich faltet er zusammen,
was er eben erst entbreitet.
Und kein Fühlender wird ihn verdammen,
weil er ungeschneuzt entschreitet.
Das Böhmische Dorf
Palmström reist, mit einem Herrn v. Korf,
in ein sogenanntes böhmisches Dorf.
Unverständlich bleibt ihm alles dort,
von dem ersten bis zum letzten Wort.
Auch v. Korf (der nur des Reimes wegen
ihn begleitet) ist um Rat verlegen.
Doch just dieses macht ihn blaß vor Glück.
Tief entzückt kehrt unser Freund zurück.
Und er schreibt in seine Wochenchronik:
Wieder ein Erlebnis, voll von Honig!
Nach Norden
Palmström ist nervös geworden;
darum schläft er jetzt nach Norden.
Denn nach Osten, Westen, Süden
schlafen, heißt das Herz ermüden.
(Wenn man nämlich in Europen
lebt, nicht südlich in den Tropen.)
Solches steht bei zwei Gelehrten,
die auch Dickens schon bekehrten –
und erklärt sich aus dem steten
Magnetismus des Planeten.
Palmström also heilt sich örtlich,
nimmt sein Bett und stellt es nördlich.
Und im Traum, in einigen Fällen,
hört er den Polarfuchs bellen.
West-östlich
Als er dies v. Korf erzählt,
fühlt sich dieser leicht