Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 185)
laufenden Steinwalles. Nach ein paar Stunden erreichte ich ein kleines Dorf; es lag zwischen mageren, abgeheimsten Feldern, der aus rohen Felsquadern aufgemauerte Turm der tiefliegenden Kirche überragte kaum die niedrigen, nur selten durch eine Rüster oder Pappel halbverdeckten Strohdächer. Jenseit derselben begegnete mir ein alter Mann mit einer Furke auf der Schulter. »Guten Tag!« rief ich durch den Wind ihm zu; »guten Tag auch!« wiederholte der Alte wie im Widerhall; ich sah es nicht, aber ich glaubte es zu fühlen, wie er stehenblieb und mir verwundert nachsah.
Ich schritt rüstig durch den Wind hindurch, bald auf schmalem Feldweg, bald quer über Feld und Wälle; ein paarmal flog die Mütze mir vom Kopf, aber der Boden stieg jetzt merklich aufwärts, und so war sie immer wieder bald zu haschen. Endlich stand ich vor der eingestürzten Wand einer ungewöhnlich großen, aber, wie es schien, seit lange außer Brauch gesetzten Sandgrube, welche mir jeden weiteren Ausblick wehrte. Als ich mit Hülfe einiger Ginsterbüsche emporgeklettert war, befand ich mich auf einer ebnen Fläche; doch kaum ein halbes tausend Schritte weiter ging es, wenn auch ganz allmählich, wieder abwärts; und da hatte ich sie, die Heide.
Die Zeit ihrer Blüte mit dem bläulichroten Seidenschimmer war vergangen; düster, in ihrer ganzen feierlichen Einsamkeit, lag sie vor mir: ein breites, muldenförmiges Tal, anscheinend ohne Unterbrechung von der dunkelen Pflanzendecke überzogen, das sich wohl eine halbe Wegstunde weit zu meinen Füßen dehnte und sich dann durch die zusammenlaufenden, fast ganz mit niedrigem Eichenbusch bedeckten Höhenseiten abschloß.
Ich war oben bis an den Rand der Fläche vorgetreten: ein schmaler, anscheinend wenig benutzter Fußsteig lief in das Heidekraut hinab und mochte drüben an dem jetzt kaum erkennbaren Ausgange der Talmulde wieder zur Ebene emporsteigen. Als meine Blicke länger an dem fernen Punkt gehaftet hatten, meinte ich den Rest eines turmartigen Mauerwerkes zu gewahren; aber die Dämmerung brach jetzt rasch herein, im Westen lagerte unter schwarzvioletten Wolken ein Streifen düsteren Abendrots, und die Nacht begann das Heidetal zu füllen; auf den Höhen hörte ich wohl das Sausen des Windes in den Krüppeleichen; aber meine Augen sahen bald auch hier nur ein unterschiedloses, graues Wogen. Nur meine Phantasie hatte sich dort den Turm erbaut: »Nicht jetzt, einst«, sagte ich mir, »hatte ein derartiges Gemäuer dort gestanden«; denn ich glaubte plötzlich zu wissen, wohin der Zufall mich geführt hatte. Nicht daß ich jemals selber hier gewesen wäre; aber mit aufhorchenden Knabenohren hatte ich, und mehr als einmal, von diesem Orte reden hören.
Ich wandte mich zurück, denn es trieb mich, trotz der Dunkelheit noch nähere Zeichen aufzuspüren; auch hatten am Westhimmel die Wolken sich verzogen, und es leuchtete noch ein letzter Abendschein über den mit kurzem Gras und Thymian bewachsenen Boden. Und bald, hin und wider gehend, erkannte ich breite Streifen auf demselben, die in hellerer Färbung nicht so ganz das karge Licht verschlangen, wo wie aus Schutt nur dürre Halme aufgeschossen waren. Augenscheinlich hatte ich drei Seiten eines geräumigen Vierecks vor mir; zwei derselben liefen bis an den Rand der Grube, die fehlende, welche das Ganze