Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 186)
abgeschlossen hatte und von der an der Südostecke nur noch ein Stück erkennbar war, mußte darüber hinaus gelegen haben und später fortgegraben sein. Als ich mich über den Rand der Grube beugte, bemerkte ich drunten ein paar gewaltige Granitquadern, wie sie zu Fundamenten breiter Mauern dienen, die zwischen Backsteintrümmern aus dem Sande ragten.
Gegenüber, nach der Talmulde zu, schien eine kleinere, viereckige Zeichnung zwischen schmäleren Streifen anzudeuten, daß einst ein Torhaus hier gewesen sei.
»Grieshuus!« rief ich fast laut. »Hier hat Grieshuus gestanden!«
Noch einmal war ich gegen den Rand der Fläche vorgetreten und blickte in die jetzt so große Einsamkeit hinaus. Es reizte mich, da vor meinen Füßen den nur noch für die nächsten Schritte erkennbaren Heidestieg hinabzugehen; aber, ein Wort war plötzlich in mir laut geworden: »die schlimmen Tage!« Wenn eben jetzt die schlimmen Tage wären! – Unwillkürlich hielt es mich zurück: ein Aberglaube schwebte über dieser Heide, der letzte Schatten eines düstern Menschenschicksals, womit ein altes Geschlecht von der Erde verschwunden war. Es sollte eine Zeit im Jahre geben oder einst gegeben haben, wo dem, welcher nach Sonnenuntergang dies Tal durchschritt, etwas Furchtbares widerfuhr, das die Kraft seines Lebens abstumpfte, wenn nicht gar völlig austat.
Auch war nicht alles Sage; man wußte noch von denen, welche als die Letzten hier gehaust hatten, wo jetzt der Sturm über die Heide fegte. Zum Teil lag es in alten Archiven, und es kam jeweilig bei dem Aufsuchen eines vergrabenen Dokumentes mit diesem oder jenem Brocken an das Tageslicht; anderes hatten die Augen der damals Lebenden gesehen, oder ein Wort, ein Ton, den man zu deuten wußte, hatte hier oder dort die Luft ihnen zugetragen; und an Winterabenden, hinter dem Bierkrug wie am Spinnrad, nicht nur im Dorfe, auch drüben in der Stadt, saß man beisammen und erzählte und fügte scheinbar sich Fernliegendes aneinander, von den Urahnen herab bis fast an den heutigen Tag; denn außer auf einem, gar bald fürstlich und dann königlich gewordenen Gute hatte kein anderes Adelsgeschlecht in unserer Nachbarschaft gesessen.
An jenem Tage war ich spät erst heimgekommen, freilich zum Schlafen früh genug; denn immer wieder stiegen die alten Mauern vor mir aus dem Boden: ich stand in dem umschlossenen Hofe und sah durch den gewölbten Torweg auf das Heidetal hinaus: auf beiden Höhenseiten zogen sich jetzt dichte Eichenwälder bis drüben an den Aufstieg, wo ihre Kronen sich vereinten; der Mond stand am Himmel und beleuchtete dort ein stumpfes Turmgemäuer; mir war, als sähe ich eine hohe Gestalt in die Heide hinabschreiten und dort verschwinden. Während von den Höhen das Rauschen der mächtigen Laubmassen, die der Sturm bewegte, an mein Ohr drang, hatte ich mich umgewandt: ich sah auf die langgestreckte Front des Hauses, dessen graue Mauern von einer Doppelreihe niedriger Fenster durchbrochen waren; in der Mitte unter einem spitzen Treppengiebel lag das hohe Haustor, von welchem eine Steintreppe mit breiten Beischlägen auf den weiten Hof hinablief. – Schon wollte ich hinauf und in das Innere des Hauses treten; aber das Brausen des Sturmes wurde stärker, und ich sah plötzlich nichts als