Literaturepoche Exil / Innere Emigration / Nazi-Literatur (Seite 6)

Die Literatur deutsch-jüdischer Autorinnen und Autoren, die in den dreißiger Jahren in Deutschland entstand, war eingebunden in den engen Rahmen, den die Nationalsozialisten der Kulturarbeit deutscher Juden zugestanden. Diese Kulturarbeit fand hauptsächlich im „Jüdischen Kulturbund" statt, der noch 1933 von jüdischen Künstlern, Theaterleuten und Musikern in Berlin gegründet wurde und bis 1941 bestand. Einerseits sollte damit den aus den Konzertsälen und Kunstausstellungen, von den Bühnen und Universitäten Ausgeschlossenen eine Arbeitsmöglichkeit gegeben werden, und andererseits sollte dem Bedürfnis nach Kunstgenuss des von der öffentlichen Kultur und Bildung ebenso ausgeschlossenen jüdischen Publikums Rechnung getragen werden. In den ersten Jahren des Dritten Reiches konnten in Deutschland lebende jüdische Schriftsteller noch in jüdischen Verlagen, Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichen. Aufgrund von Schreibproblemen und wegen der Zensur wurde jedoch weit mehr geschrieben als veröffentlicht. Während der dreißiger Jahre fällt eine Akzentverlagerung in der Programmgestaltung des Kulturbundes auf, die sich parallel zur fortschreitenden Ausgrenzung der Juden vollzog. Sie zeigte sich in einer vermehrten Hinwendung zu jüdischen Stoffen, zur Beschäftigung mit jiddischer und hebräischer Literatur und der vermehrten Thematisierung jüdischer Traditionen. Aus verschiedenen Gründen war die Lyrik die bevorzugte literarische Gattung: sie eignete sich gut zum Vortrag, konnte leicht auch in der Tagespresse publiziert werden, gab subjektivem Empfinden Ausdruck und reichte von der Gebrauchslyrik bis hin zum hochartifiziellen Gedicht.

Mit dem Titel „Das Wort der Stummen" für einen Gedichtzyklus, der 1933 entstand und die Verfolgung von Juden und Kommunisten im „dritten, christlich-deutschen Reich" thematisierte, gab Gertrud Kolmar der deutsch-jüdischen Literatur im Dritten Reich paradigmatisch Ausdruck: geschrieben von denen, die zum Schweigen gebracht werden sollten, die ihre Stimme aber trotzdem erhoben. Die von Kurt Pinthus (1886-1975) zusammengestellte Anthologie „Jüdische Lyrik der Zeit" in der Central-Vereins-Zeitung vom 9.4.1936 versammelte deren wichtigste Stimmen: Mascha Kaléko (1907-1975), Hilde Marx (1911-1986) , Ilse Blumenthal-Weiss (1899-1987), Nelly Sachs (1891-1970), Gertrud Kolmar. Bis auf Kolmar, die in Auschwitz ums Leben kam, glückte den anderen die Flucht. Sie blieben bis zu ihrem Tod in ihren jeweiligen Exilländern.

Mehr als eine halbe Million Menschen wurden durch die Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben. Manche - wie Kurt Tucholsky (1890-1935), Thea Sternheim (1883-1971) oder Vicki Baum (1888-1960) - lebten bereits seit den späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahren im Ausland. Frauen und Männer, Politiker und Arbeiter, Geschäftsleute, Ärzte und Wissenschaftler (darunter fünf Nobelpreisträger), Komponisten, Schauspieler, bildende Künstler wurden ins Exil gezwungen. Von den ca. 5.500 Kulturschaffenden waren etwa die Hälfte Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Sie ließen ihre Familien und Freunde zurück, verloren ihren Besitz und ihr Lesepublikum. Die Emigration war ein Weg in eine ungewisse Zukunft, ein Lebensbruch, an dem manche verzweifelten und sich das Leben nahmen, wie Kurt Tucholsky, Ernst Toller (1893-1939), Walter Benjamin (1892-1940), Ernst Weiss (1882-1940) oder Stefan Zweig (1881-1942).

Seiten