Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 18)

Oranien: Wir sind nicht einzelne Menschen, Egmont. Ziemt es sich, uns für Tausende hinzugeben, so ziemt es sich auch, uns für Tausende zu schonen.

Egmont: Wer sich schont, muß sich selbst verdächtig werden.

Oranien: Wer sich kennt, kann sicher vor- und rückwärts gehn.

Egmont: Das Übel, das du fürchtest, wird gewiß durch deine Tat.

Oranien: Es ist klug und kühn, dem unvermeidlichen Übel entgegenzugehn.

Egmont: Bei so großer Gefahr kommt die leichteste Hoffnung in Anschlag.

Oranien: Wir haben nicht für den leisesten Fußtritt Platz mehr, der Abgrund liegt hart vor uns.

Egmont: Ist des Königs Gunst ein so schmaler Grund?

Oranien: So schmal nicht, aber schlüpfrig.

Egmont: Bei Gott, man tut ihm Unrecht. Ich mag nicht leiden, daß man ungleich von ihm denkt! Er ist Karls Sohn und keiner Niedrigkeit fähig.

Oranien: Die Könige tun nichts Niedriges.

Egmont: Man sollte ihn kennenlernen.

Oranien: Eben diese Kenntnis rät uns, eine gefährliche Probe nicht abzuwarten.

Egmont: Keine Probe ist gefährlich, zu der man Mut hat.

Oranien: Du wirst aufgebracht, Egmont.

Egmont: Ich muß mit meinen Augen sehen.

Oranien: O sähst du diesmal nur mit meinen! Freund, weil du sie offen hast, glaubst du, du siehst. Ich gehe! Warte du Albas Ankunft ab, und Gott sei bei dir! Vielleicht rettet dich mein Weigern. Vielleicht daß der Drache nichts zu fangen glaubt, wenn er uns nicht beide auf einmal verschlingt. Vielleicht zögert er, um seinen Anschlag sichrer auszuführen, und vielleicht bis dahin siehst du die Sache in ihrer wahren Gestalt. Aber dann schnell! schnell! Rette! rette dich! – Leb wohl! – Laß deiner Aufmerksamkeit nichts entgehen: wieviel Mannschaft er mitbringt, wie er die Stadt besetzt, was für Macht die Regentin behält, wie deine Freunde gefaßt sind. Gib mir Nachricht. – – – Egmont! –

Egmont: Was willst du?

Oranien ibn bei der Hand fassend: Laß dich überreden! Geh mit!

Egmont: Wie? Tränen, Oranien?

Oranien: Einen Verlornen zu beweinen ist auch männlich.

Egmont: Du wähnst mich verloren?

Oranien: Du bist’s. Bedenke! Dir bleibt nur eine kurze Frist. Leb wohl! Ab.

Egmont: allein: Daß andrer Menschen Gedanken solchen Einfluß auf uns haben! Mir wäre es nie eingekommen, und dieser Mann trägt seine Sorglichkeit in mich herüber. – Weg! – das ist ein fremder Tropfen in meinem Blute. Gute Natur, wirf ihn wieder heraus! Und von meiner Stirne die sinnenden Runzeln wegzubaden, gibt es ja wohl noch ein freundlich Mittel.

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