Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 22)
Egmont: Es sieht einmal so aus. Wir sind einander freundlich und dienstlich.
Klärchen: Und im Herzen?
Egmont: Will ich ihr wohl. Jedes hat seine eignen Absichten. Das tut nichts zur Sache. Sie ist eine treffliche Frau, kennt ihre Leute und sähe tief genug, wenn sie auch nicht argwöhnisch wäre. Ich mache ihr viel zu schaffen, weil sie hinter meinem Betragen immer Geheimnisse sucht und ich keine habe.
Klärchen: So gar keine?
Egmont: Eh nun! einen kleinen Hinterhalt. Jeder Wein setzt Weinstein in den Fässern an mit der Zeit. Oranien ist doch noch eine bessere Unterhaltung für sie und eine immer neue Aufgabe. Er hat sich in den Kredit gesetzt, daß er immer etwas Geheimes vorhabe, und nun sieht sie immer nach seiner Stirne, was er wohl denken, auf seine Schritte, wohin er sie wohl richten möchte.
Klärchen: Verstellt sie sich?
Egmont: Regentin, und du fragst?
Klärchen: Verzeiht, ich wollte fragen: ist sie falsch?
Egmont: Nicht mehr und nicht weniger als jeder, der seine Absichten erreichen will.
Klärchen: Ich könnte mich in die Welt nicht finden. Sie hat aber auch einen männlichen Geist, sie ist ein ander Weib als wir Nähterinnen und Köchinnen. Sie ist groß, herzhaft, entschlossen.
Egmont: Ja, wenn’s nicht gar zu bunt geht. Diesmal ist sie doch ein wenig auseinander.
Klärchen: Wieso?
Egmont: Sie hat auch ein Bärtchen auf der Oberlippe und manchmal einen Anfall von Podagra. Eine rechte Amazone!
Klärchen: Eine majestätische Frau! Ich scheute mich, vor sie zu treten.
Egmont: Du bist doch sonst nicht zaghaft – Es wäre auch nicht Furcht, nur jungfräuliche Scham.
Klärchen schlägt die Augen nieder, nimmt seine Hand und lehnt sich an ibn.
Egmont: Ich verstehe dich! liebes Mädchen! du darfst die Augen aufschlagen. Er küßt ihre Augen.
Klärchen: Laß mich schweigen! Laß mich dich halten. Laß mich dir in die Augen sehn; alles drin finden, Trost und Hoffnung und Freude und Kummer. Sie umarmt ibn und siebt ihn an. Sag mir! Sage! ich begreife nicht! Bist du Egmont? der Graf Egmont? der große Egmont, der so viel Aufsehn macht, von dem in den Zeitungen steht, an dem die Provinzen hängen?
Egmont: Nein, Klärchen, das bin ich nicht.
Klärchen: Wie?
Egmont: Siehst du, Klärchen! – Laß mich sitzen! –
Er setzt sich, sie kniet sich vor ihn auf einen Schemel, legt ihre Arme auf seinen Schoß und siebt ihn an.
Jener Egmont ist ein verdrießlicher, steifer, kalter Egmont, der an sich halten, bald dieses, bald jenes Gesicht machen muß, geplagt, verkannt, verwickelt ist, wenn ihn die Leute für froh und fröhlich halten. Geliebt von einem Volke, das nicht weiß, was es will, geehrt und in die Höhe getragen von einer Menge, mit der nichts anzufangen ist, umgeben von Freunden, denen er sich nicht überlassen darf, beobachtet von Menschen, die ihm auf alle Weise beikommen möchten, arbeitend und sich bemühend, oft ohne Zweck, meist ohne Lohn – laß mich schweigen, wie es dem ergeht, wie es dem zumute ist. Aber dieser, Klärchen, der ist ruhig, offen, glücklich, geliebt und gekannt von dem besten Herzen, das auch er ganz kennt und mit voller Liebe und Zutrauen an das seine drückt. Erumarmt sie. Das ist dein Egmont!
Klärchen: So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese!