Ungekürztes Werk "Das Wirtshaus im Spessart" von Wilhelm Hauff (Seite 63)
angezeigt, Kalum-Bek?«
»Ei freilich!« rief jener lächelnd. »Vor den Polizeirichter habe ich ihn geführt.«
»Man bringe den Polizeirichter!« befahl der Kalif.
Zum allgemeinen Erstaunen erschien dieser sogleich, wie durch Zauberei herbeigebracht.
Der Kalif fragte ihn, ob er sich dieses Handels erinnere, und dieser gestand den Fall zu. »Hast du den jungen Mann verhört? Hat er den Diebstahl eingestanden?« fragte Harun.
»Nein, er war sogar so verstockt, daß er niemand als Euch selbst gestehen wollte!« erwiderte der Richter.
»Aber ich erinnere mich nicht, ihn gesehen zu haben«, sagte der Kalif.
»Ei, warum auch? Da müßte ich alle Tage einen ganzen Pack solchen Gesindels zu Euch schicken, die Euch sprechen wollen.«
»Du weißt, daß mein Ohr für jeden offen ist«, antwortete Harun; »aber wahrscheinlich waren die Beweise über den Diebstahl so klar, daß es nicht nötig war, den jungen Menschen vor mein Angesicht zu bringen. Du hattest wohl Zeugen, daß das Geld, das dir gestohlen wurde, dir gehörte, Kalum?«
»Zeugen?« fragte dieser erbleichend. »Nein, Zeugen hatte ich nicht, und Ihr wißt ja auch, Beherrscher der Gläubigen, daß ein Goldstück aussieht wie das andere. Woher konnte ich denn Zeugen nehmen, daß diese hundert Stücke in meiner Kasse fehlen?«
»An was erkanntest du denn, daß jene Summe gerade dir gehöre?« fragte der Kalif.
»An dem Beutel, in welchem sie war«, erwiderte Kalum.
»Hast du den Beutel hier?« forschte jener weiter.
»Hier ist er«, sprach der Kaufmann, zog einen Beutel hervor und reichte ihn dem Großwesir, damit er ihn dem Kalifen gebe.
Doch der Wesir rief mit verstelltem Erstaunen: »Beim Bart des Propheten! Der Beutel soll dein sein, du Hund? Mein gehörte dieser Beutel, und ich gab ihn, mit hundert Goldstücken gefüllt, einem braven jungen Mann, der mich aus einer großen Gefahr befreite.«
»Kannst du darauf schwören?« fragte der Kalif.
»So gewiß, als ich einst ins Paradies kommen will«, antwortete der Wesir; »denn meine Tochter hat ihn selbst verfertigt.«
»Ei, ei!« rief Harun. »So wurdest du also falsch unterrichtet, Polizeirichter? Warum hast du denn geglaubt, daß der Beutel diesem Kaufmann gehöre?«
»Er hat geschworen«, antwortete der Polizeirichter furchtsam.
»So hast du falsch geschworen?« donnerte der Kalif den Kaufmann an, der erbleichend und zitternd vor ihm stand.
»Allah, Allah!« rief jener. »Ich will gewiß nichts gegen den Herrn Großwesir sagen; er ist ein glaubenswürdiger Mann; aber ach, der Beutel gehört doch mein, und der nichtswürdige Said hat ihn gestohlen. Tausend Tomans wollte ich geben, wenn er jetzt zur Stelle wäre«.
»Was hast du denn mit diesem Said angefangen?« fragte der Kalif. »Sag an, wohin man schicken muß, damit er vor mir Bekenntnis ablege!«
»Ich habe ihn auf eine wüste Insel geschickt«, sprach der Polizeirichter.
»O Said, mein Sohn, mein Sohn!« rief der unglückliche Vater und weinte.
»So hat er also das Verbrechen bekannt?« fragte Harun.
Der Polizeirichter erbleichte. Er rollte seine Augen hin und her, und endlich sprach er: »Wenn ich mich noch recht erinnern kann – ja.«
»Du weißt es also nicht gewiß?« fuhr der Kalif mit schrecklicher Stimme fort. »So wollen wir ihn selbst fragen. Tritt hervor, Said! Und du, Kalum-Bek, zahlst vor allem tausend Goldstücke, weil er jetzt hier zur Stelle ist.«
Kalum und der Polizeirichter glaubten ein Gespenst zu