Ungekürztes Werk "Das Wirtshaus im Spessart" von Wilhelm Hauff (Seite 64)
sehen. Sie stürzten nieder und riefen:
»Gnade! Gnade!«
Benezar, vor Freude halb ohnmächtig, eilte in die Arme seines verlorenen Sohnes.
Aber mit eiserner Strenge fragte jetzt der Kalif: »Polizeirichter, hier steht Said; hat er eingestanden?«
»Nein, nein!« heulte der Polizeirichter. »Ich habe nur Kalums Zeugnis gehört, weil er ein angesehener Mann ist.«
»Habe ich dich darum als Richter über alle bestellt, daß du nur den Vornehmen hörest?« rief Harun al-Raschid mit edlem Zorn. »Auf zehn Jahre verbanne ich dich auf eine wüste Insel, mitten im Meer; da kannst du über Gerechtigkeit nachdenken. Und du, elender Mensch, der du Sterbende erweckst – nicht, um sie zu retten, sondern um sie zu deinen Sklaven zu machen –, du zahlst, wie schon gesagt, tausend Tomans, weil du sie versprochen, wenn Said käme, um für dich zu zeugen.«
Kalum freute sich, so wohlfeil aus dem bösen Handel zu kommen, und wollte eben dem gütigen Kalifen danken, doch dieser fuhr fort: »Für den falschen Eid wegen der hundert Goldstücke bekommst du hundert Hiebe auf die Fußsohlen. Ferner hat Said zu wählen, ob er dein ganzes Gewölbe und dich als Lastträger nehmen will oder ob er mit zehn Goldstücken für jeden Tag, welchen er dir diente, zufrieden ist.«
»Laßt den Elenden laufen, Kalif!« rief der Jüngling. »Ich will nichts, was ihm gehörte.«
»Nein«, antwortete Harun, »ich will, daß du entschädigt werdest. Ich wähle statt deiner die zehn Goldstücke für den Tag, und du magst berechnen, wie viele Tage du in seinen Klauen warst. Jetzt fort mit diesen Elenden!«
Sie wurden abgeführt, und der Kalif führte Benezar und Said in einen andern Saal; dort erzählte er ihm selbst seine wunderbare Rettung durch Said und wurde nur zuweilen durch das Geheul Kalum-Beks unterbrochen, dem man soeben im Hof seine hundert vollwichtigen Goldstücke auf die Fußsohlen zählte.
Der Kalif lud Benezar ein, mit Said bei ihm in Bagdad zu leben.
Er sagte es zu und reiste nur noch einmal nach Hause, um sein großes Vermögen abzuholen. Said aber lebte in dem Palast, den ihm der dankbare Kalif erbaut hatte, wie ein Fürst. Der Bruder des Kalifen und der Sohn des Großwesirs waren seine Gesellschafter, und es war in Bagdad zum Sprichwort geworden: Ich möchte so gut und so glücklich sein wie Said, der Sohn Benezars.
*
»Bei solcher Unterhaltung käme mir kein Schlaf in die Augen, wenn ich auch zwei, drei und mehrere Nächte wach bleiben müßte«, sagte der Zirkelschmied, als der Jäger geendigt hatte; »und oft schon habe ich dies bewährt gefunden. So war ich in früherer Zeit als Geselle bei einem Glockengießer. Der Meister war ein reicher Mann und kein Geizhals.
Aber ebendarum wunderten wir uns nicht wenig, als wir einmal eine große Arbeit hatten und er ganz gegen seine Gewohnheit so knickerig wie möglich erschien. Es wurde in die neue Kirche eine Glocke gegossen, und wir Jungen und Gesellen mußten die ganze Nacht am Herd sitzen und das Feuer hüten. Wir glaubten nicht anders, als der Meister werde sein Mutterfäßchen anstechen und uns den besten Wein vorsetzen. Aber nicht also. Er ließ nur alle Stunden einen Umtrunk tun und