Ungekürztes Werk "Minna von Barnhelm" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 28)

dachte ich wieder: Nein, du wirst nicht betteln gehn, du wirst zum Major Tellheim gehn; der wird seinen letzten Pfennig mit dir teilen; der wird dich zu Tode füttern; bei dem wirst du als ein ehrlicher Kerl sterben können.

V. TELLHEIM (indem er Werners Hand ergreift). Und, Kamerad, das denkst du nicht noch?

WERNER. Nein, das denk ich nicht mehr. – Wer von mir nichts nehmen will, wenn er's bedarf, und ich's habe, der will mir auch nichts geben, wenn er's hat, und ich's bedarf. – Schon gut! (Will gehen.)

V. TELLHEIM. Mensch, mache mich nicht rasend! Wo willst du hin? (Hält ihn zurück.) Wenn ich dich nun auf meine Ehre versichere, daß ich noch Geld habe; wenn ich dir auf meine Ehre verspreche, daß ich dir es sagen will, wenn ich keines mehr habe; daß du der erste und einzige sein sollst, bei dem ich mir etwas borgen will: – bist du dann zufrieden?

WERNER. Muß ich nicht? – Geben Sie mir die Hand darauf, Herr Major.

V. TELLHEIM. Da, Paul! – Und nun genug davon. Ich kam hieher, um ein gewisses Mädchen zu sprechen –

Achter Auftritt

Franziska, aus dem Zimmer des Fräuleins.

v. Tellheim. Paul Werner.

Franziska (im Hereintreten). Sind Sie noch da Herr Wachtmeister? – (Indem sie den Tellheim gewahr wird.) Und Sie sind auch da, Herr Major? – Den Augenblick bin ich zu Ihren Diensten. (Geht geschwind wieder in das Zimmer.)

Neunter Auftritt

v. Tellheim. Paul Werner.

V. TELLHEIM. Das war sie! – Aber ich höre ja, du kennst sie, Werner?

WERNER. Ja, ich kenne das Frauenzimmerchen. –

V. TELLHEIM. Gleichwohl, wenn ich mich recht erinnere, als ich in Thüringen Winterquartier hatte, warst du nicht bei mir?

WERNER. Nein, da besorgte ich in Leipzig Mundierungsstücke.

V. TELLHEIM. Woher kennst du sie denn also?

WERNER. Unsere Bekanntschaft ist noch blutjung. Sie ist von heute. Aber junge Bekanntschaft ist warm.

V. TELLHEIM. Also hast du ihr Fräulein wohl auch schon gesehen?

WERNER. Ist ihre Herrschaft ein Fräulein? Sie hat mir gesagt, Sie kennten ihre Herrschaft.

V. TELLHEIM. Hörst du nicht? aus Thüringen her.

WERNER. Ist das Fräulein jung?

V. TELLHEIM. Ja.

WERNER. Schön?

V. TELLHEIM. Sehr schön.

WERNER. Reich?

v. Tellheim. Sehr reich.

WERNER. Ist Ihnen das Fräulein auch so gut wie das Mädchen? Das wäre ja vortrefflich!

V. TELLHEIM. Wie meinst du?

Zehnter Auftritt

Franziska wieder heraus, mit einem Brief in der Hand.

v. Tellheim. Paul Werner.

FRANZISKA. Herr Major –

V. TELLHEIM. Liebe Franziska, ich habe dich noch nicht willkommen heißen können.

FRANZISKA. In Gedanken werden Sie es doch schon getan haben. Ich weiß, Sie sind mir gut. Ich Ihnen auch. Aber das ist gar nicht artig, daß Sie Leute, die Ihnen gut sind, so ängstigen.

Werner (vor sich). Ha, nun merk ich. Es ist richtig!

V. TELLHEIM. Mein Schicksal, Franziska! – Hast du ihr den Brief übergeben?

FRANZISKA. Ja, und hier übergebe ich Ihnen – (Reicht ihm den Brief.)

V. TELLHEIM. Eine Antwort? –

FRANZISKA. Nein, Ihren eignen Brief wieder.

V. TELLHEIM. Was? Sie will ihn nicht lesen?

FRANZISKA. Sie wollte wohl, aber – wir können Geschriebenes nicht gut lesen.

V. TELLHEIM. Schäkerin!

FRANZISKA. Und wir denken, daß das Briefschreiben für die nicht erfunden ist, die sich mündlich

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