Ungekürztes Werk "Minna von Barnhelm" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 6)

Oder wollen Sie, daß ich die unerzogene Waise meines Freundes bestehlen soll? Bestehlen, Madame; das würde es in dem eigentlichsten Verstande sein. Ihm gehört es, für ihn legen Sie es an! –

DIE DAME. Ich verstehe Sie; verzeihen Sie nur, wenn ich noch nicht recht weiß, wie man Wohltaten annehmen muß. Woher wissen es denn aber auch Sie, daß eine Mutter mehr für ihren Sohn tut, als sie für ihr eigen Leben tun würde? Ich gehe –

V. TELLHEIM. Gehen Sie, Madame, gehen Sie! Reisen Sie glücklich! Ich bitte Sie nicht, mir Nachricht von Ihnen zu geben. Sie möchte mir zu einer Zeit kommen, wo ich sie nicht nutzen könnte. Aber noch eines, gnädige Frau, bald hätte ich das Wichtigste vergessen. Marloff hat noch an der Kasse unsers ehemaligen Regiments zu fodern. Seine Forderungen sind so richtig wie die meinigen. Werden meine bezahlt, so müssen auch die seinigen bezahlt werden. Ich hafte dafür. –

DIE DAME. Oh! Mein Herr – Aber ich schweige lieber. – Künftige Wohltaten so vorbereiten, heißt sie in den Augen des Himmels schon erwiesen haben. Empfangen Sie seine Belohnung und meine Tränen! (Geht ab.)

Siebenter Auftritt

v. Tellheim.

Armes, braves Weib! Ich muß nicht vergessen, den Bettel zu vernichten. (Er nimmt aus seinem Taschenbuche Briefschaften, die er zerreißt.) Wer steht mir dafür, daß eigner Mangel mich nicht einmal verleiten könnte, Gebrauch davon zu machen?

Achter Auftritt

Just. v. Tellheim.

v. Tellheim. Bist du da?

Just (indem er sich die Augen wischt). Ja!

V. TELLHEIM. Du hast geweint?

JUST. Ich habe in der Küche meine Rechnung geschrieben, und die Küche ist voll Rauch. Hier ist sie, mein Herr!

V. TELLHEIM. Gib her.

JUST. Haben Sie Barmherzigkeit mit mir, mein Herr. Ich weiß wohl, daß die Menschen mit Ihnen keine haben, aber –

V. TELLHEIM. Was willst du?

JUST. Ich hätte mir ehr den Tod als meinen Abschied vermutet.

V. TELLHEIM. Ich kann dich nicht länger brauchen; ich muß mich ohne Bedienten behelfen lernen. (Schlägt die Rechnung auf und lieset.) »Was der Herr Major mir schuldig: Drei und einen halben Monat Lohn, den Monat 6 Taler, macht 21 Taler. Seit dem Ersten dieses an Kleinigkeiten ausgelegt 1 Taler 7 Gr. 9 Pf. Summa Summarum 22 Taler 7 Gr. 9 Pf.« – Gut, und es ist billig, daß ich diesen laufenden Monat ganz bezahle.

JUST. Die andere Seite, Herr Major –

V. TELLHEIM. Noch mehr? (Lieset.) »Was dem Herrn Major ich schuldig: An den Feldscher für mich bezahlt 25 Taler. Für Wartung und Pflege während meiner Kur für mich bezahlt 39 Taler. Meinem abgebrannten und geplünderten Vater auf meine Bitte vorgeschossen, ohne die zwei Beutepferde zu rechnen, die er ihm geschenkt, 50 Taler. Summa Summarum 114 Taler. Davon abgezogen vorstehende 22 Taler 7 Gr. 9 Pf., bleibe dem Herrn Major schuldig 91 Taler 16 Gr. 3 Pf.« – Kerl, du bist toll! –

JUST. Ich glaube es gern, daß ich Ihnen weit mehr koste. Aber es wäre verlorne Tinte, es dazuzuschreiben. Ich kann Ihnen das nicht bezahlen, und wenn Sie mir vollends die Liverei nehmen, die ich auch noch nicht verdient habe – so wollte

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