Ungekürztes Werk "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 4)

Wunder sein? – Der Wunder höchstes ist,

Daß uns die wahren, echten Wunder so

Alltäglich werden können, werden sollen.

Ohn' dieses allgemeine Wunder, hätte

Ein Denkender wohl schwerlich Wunder je

Genannt, was Kindern bloß so heißen müßte,

Die gaffend nur das Ungewöhnlichste,

Das Neuste nur verfolgen.

DAJA (zu Nathan). Wollt Ihr denn

Ihr ohnedem schon überspanntes Hirn

Durch solcherlei Subtilitäten ganz

Zersprengen?

NATHAN.   Laß mich! – Meiner Recha wär'

Es Wunders nicht genug, daß sie ein Mensch

Gerettet, welchen selbst kein kleines Wunder

Erst retten müssen? Ja, kein kleines Wunder!

Denn wer hat schon gehört, daß Saladin

Je eines Tempelherrn verschont? daß je

Ein Tempelherr von ihm verschont zu werden

Verlangt? gehofft? ihm je für seine Freiheit

Mehr als den ledern Gurt geboten, der

Sein Eisen schleppt; und höchstens seinen Dolch?

RECHA.

Das schließt für mich, mein Vater. – Darum eben

War das kein Tempelherr; er schien es nur. –

Kömmt kein gefangner Tempelherr je anders

Als zum gewissen Tode nach Jerusalem;

Geht keiner in Jerusalem so frei

Umher: wie hätte mich des Nachts freiwillig

Denn einer retten können?

NATHAN.   Sieh! wie sinnreich.

Jetzt, Daja, nimm das Wort. Ich hab es ja

Von dir, daß er gefangen hergeschickt

Ist worden. Ohne Zweifel weißt du mehr.

DAJA. Nun ja. – So sagt man freilich; – doch man sagt

Zugleich, daß Saladin den Tempelherrn

Begnadigt, weil er seiner Brüder einem,

Den er besonders lieb gehabt, so ähnlich sehe.

Doch da es viele zwanzig Jahre her,

Daß dieser Bruder nicht mehr lebt, – er hieß,

Ich weiß nicht wie; – er blieb, ich weiß nicht wo: –

So klingt das ja so gar – so gar unglaublich,

Daß an der ganzen Sache wohl nichts ist.

NATHAN. Ei, Daja! Warum wäre denn das so

Unglaublich? Doch wohl nicht – wie's wohl geschieht –

Um lieber etwas noch Unglaublichers

Zu glauben? – Warum hätte Saladin,

Der sein Geschwister insgesamt so liebt,

In jüngern Jahren einen Bruder nicht

Noch ganz besonders lieben können? – Pflegen

Sich zwei Gesichter nicht zu ähneln? – Ist

Ein alter Eindruck ein verlorner? – Wirkt

Das Nämliche nicht mehr das Nämliche? –

Seit wenn? – Wo steckt hier das Unglaubliche? –

Ei freilich, weise Daja, wär's für dich

Kein Wunder mehr; und deine Wunder nur

Bedürf ... verdienen, will ich sagen, Glauben.

DAJA. Ihr spottet.

NATHAN.   Weil du meiner spottest. – Doch

Auch so noch, Recha, bleibet deine Rettung

Ein Wunder, dem nur möglich, der die strengsten

Entschlüsse, die unbändigsten Entwürfe

Der Könige, sein Spiel – wenn nicht sein Spott –

Gern an den schwächsten Fäden lenkt.

RECHA.    Mein Vater!

Mein Vater, wenn ich irr, Ihr wißt, ich irre

Nicht gern.

NATHAN.  Vielmehr, du läßt dich gern belehren. –

Sieh! eine Stirn, so oder so gewölbt;

Der Rücken einer Nase, so vielmehr

Als so geführet; Augenbraunen, die

Auf einem scharfen oder stumpfen Knochen

So oder so sich schlängeln; eine Linie,

Ein Bug, ein Winkel, eine Falt', ein Mal,

Ein Nichts, auf eines wilden Europäers

Gesicht: – und du entkömmst dem Feu'r, in Asien!

Das wär' kein Wunder, wundersücht'ges Volk?

Warum bemüht ihr denn noch einen Engel?

DAJA. Was schadet's – Nathan, wenn ich sprechen darf –

Bei alledem, von einem Engel lieber

Als einem Menschen sich gerettet denken?

Fühlt man der ersten unbegreiflichen

Ursache seiner Rettung nicht sich so

Viel näher?

NATHAN. Stolz! und nichts als Stolz! Der Topf

Von Eisen will mit einer silbern Zange

Gern aus der Glut gehoben sein, um selbst

Ein Topf von Silber sich zu dünken. – Pah! –

Und was es schadet, fragst

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