Ungekürztes Werk "Die Räuber" von Friedrich Schiller (Seite 30)
Bote des Himmels! Kommst du, meine Seele zu lösen?
Amalia (mit sanfterem Ton). Ihr habt einen herrlichen Sohn verloren.
Der Alte Moor. Ermordet, willst du sagen. Mit diesem Zeugnis belastet tret ich vor den Richterstuhl Gottes.
Amalia. Nicht also, jammervoller Greis! der himmlische Vater rückt’ ihn zu sich. Wir wären zu glücklich gewesen auf dieser Welt. – Droben, droben über den Sonnen – Wir sehn ihn wieder.
Der Alte Moor. Wiedersehn, wiedersehn! O, es wird mir durch die Seele schneiden ein Schwert – wenn ich ein Heiliger ihn unter den Heiligen finde. – Mitten im Himmel werden durch mich schauern Schauer der Hölle! im Anschauen des Unendlichen mich zermalmen die Erinnerung: Ich hab meinen Sohn ermordet!
Amalia. O, er wird Euch die Schmerzerinnerung aus der Seele lächeln! Seid doch heiter, lieber Vater! ich bin’s so ganz. Hat er nicht schon den himmlischen Hörern den Namen Amalia vorgesungen auf der seraphischen Harfe, und die himmlischen Hörer lispelten leise ihm nach? Sein letzter Seufzer war ja Amalia! Wird nicht sein erster Jubel Amalia sein?
Der Alte Moor. Himmlischer Trost quillt von deinen Lippen! Er wird mir lächeln, sagst du? Vergeben? Du mußt bei mir bleiben, Geliebte meines Karls, wenn ich sterbe.
Amalia. Sterben ist Flug in seine Arme. Wohl Euch! Ihr seid zu beneiden. Warum sind diese Gebeine nicht mürb? Warum diese Haare nicht grau? Wehe über die Kräfte der Jugend! Willkommen, du markloses Alter, näher gelegen dem Himmel und meinem Karl!
Franz tritt auf.
Der Alte Moor. Tritt her, mein Sohn! Vergib mir, wenn ich vorhin zu hart gegen dich war! Ich vergebe dir alles. Ich möchte so gern im Frieden den Geist aufgeben.
Franz. Habt Ihr genug um Euren Sohn geweint? Soviel ich sehe, habt Ihr nur einen.
Der Alte Moor. Jakob hatte der Söhne zwölf, aber um seinen Joseph hat er blutige Tränen geweint.
Franz. Hum!
Der Alte Moor. Geh, nimm die Bibel, meine Tochter, und lies mir die Geschichte Jakobs und Josephs! Sie hat mich immer so gerührt, und damals bin ich noch nicht Jakob gewesen.
Amalia. Welches soll ich Euch lesen? (Nimmt die Bibel und blättert.)
Der Alte Moor. Lies mir den Jammer des Verlassenen, als er ihn nimmer unter seinen Kindern fand – und vergebens sein harrte im Kreis seiner elfe – und sein Klagelied, als er vernahm: sein Joseph sei ihm genommen auf ewig –
Amalia (liest). »Da nahmen sie Josephs Rock, und schlachteten einen Ziegenbock, und tauchten den Rock in das Blut, und schickten den bunten Rock hin, und ließen ihn ihrem Vater bringen und sagen: Diesen haben wir funden, siehe ob’s deines Sohnes Rock sei oder nicht? (Franz geht plötzlich hinweg.) Er kannte ihn aber und sprach: Es ist meines Sohnes Rock, ein böses Tier hat ihn gefressen, ein reißend Tier hat Joseph zerrissen.« –
Der Alte Moor (fällt aufs Kissen zurück). Ein reißend Tier hat Joseph zerrissen!
Amalia (liest weiter). »Und Jakob zerriß seine Kleider, und legte einen Sack um seine Lenden, und trug Leide um seinen Sohn lange Zeit, und all seine Söhne und Töchter traten auf, daß sie ihn trösteten; aber er wollte sich nicht trösten lassen