Ungekürztes Werk "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller (Seite 15)

reißt die Jugend fort,

Gewaltsam strebend über unsre Berge.

– O unglücksel'ge Stunde, da das Fremde

In diese still beglückten Täler kam,

Der Sitten fromme Unschuld zu zerstören!

Das Neue dringt herein mit Macht, das Alte

Das Würd'ge scheidet, andre Zeiten kommen,

Es lebt ein andersdenkendes Geschlecht!

Was tu ich hier? Sie sind begraben alle,

Mit denen ich gewaltet und gelebt.

Unter der Erde schon liegt meine Zeit,

Wohl dem, der mit der neuen nicht mehr braucht zu leben!

Geht ab.

Zweite Szene

Eine Wiese von hohen Felsen und Wald umgeben. Auf den Felsen

sind Steige, mit Geländern, auch Leitern, von denen man nachher

die Landleute herabsteigen sieht. Im Hintergrunde zeigt sich der See,

über welchem anfangs ein Mondregenbogen zu sehen ist.

Den Prospekt schließen hohe Berge, hinter welchen noch höhere

Eisgebirge ragen. Es ist völlig Nacht auf der Szene, nur der See und

die weißen Gletscher leuchten im Mondlicht.

Melchtal, Baumgarten, Winkelried, Meier von Sarnen,

Burkhardt am Bühel, Arnold von Sewa, Klaus von der Flüe und

noch vier andere Landleute, alle bewaffnet.

MELCHTAL noch hinter der Szene:

Der Bergweg öffnet sich, nur frisch mir nach,

Den Fels erkenn ich und das Kreuzlein drauf,

Wir sind am Ziel, hier ist das Rütli.

 

Treten auf mit Windlichtern.

 

WINKELRIED: Horch!

SEWA: Ganz leer.

MEIER: 's ist noch kein Landmann da. Wir sind

Die ersten auf dem Platz, wir Unterwaldner.

MELCHTAL: Wie weit ist's in der Nacht?

BAUMGARTEN: Der Feuerwächter

Vom Selisberg hat eben zwei gerufen.

Man hört in der Ferne läuten.

MEIER:

Still! Horch!

AM BÜHEL: Das Mettenglöcklein in der Waldkapelle

Klingt hell herüber aus dem Schwyzerland.

VON DER FLÜE:

Die Luft ist rein und trägt den Schall so weit.

MELCHTAL: Gehn einige und zünden Reisholz an,

Daß es loh brenne, wenn die Männer kommen.

Zwei Landleute gehen.

SEWA: 's ist eine schöne Mondennacht. Der See

Liegt ruhig da als wie ein ebner Spiegel.

AM BÜHEL: Sie haben eine leichte Fahrt.

WINKELRIED zeigt nach dem See:   Ha seht!

Seht dorthin! Seht ihr nichts?

MEIER: Was denn? – Ja wahrlich!

Ein Regenbogen mitten in der Nacht!

MELCHTAL: Es ist das Licht des Mondes das ihn bildet.

VON DER FLÜE:

Das ist ein seltsam wunderbares Zeichen!

Es leben viele, die das nicht gesehn.

SEWA: Er ist doppelt, seht, ein blässerer steht drüber.

BAUMGARTEN: Ein Nachen fährt soeben drunter weg.

MELCHTAL: Das ist der Stauffacher mit seinem Kahn,

Der Biedermann läßt sich nicht lang erwarten.

Geht mit Baumgarten nach dem Ufer.

MEIER: Die Urner sind es, die am längsten säumen.

AM BÜHEL: Sie müssen weit umgehen durchs Gebirg,

Daß sie des Landvogts Kundschaft hintergehen.

Unterdessen haben die zwei Landleute in der Mitte des Platzes ein

Feuer angezündet.

MELCHTAL am Ufer: Wer ist da? Gebt das Wort!

STAUFFACHER von unten:  Freunde des Landes.

Alle gehen nach der Tiefe, den Kommenden entgegen.

 

Aus dem Kahn steigen Stauffacher, Itel Reding, Hans auf der Mauer,

Jörg im Hofe, Konrad Hunn, Ulrich der Schmied, Jost von Weiler und

noch drei andre Landleute, gleichfalls bewaffnet.

ALLE rufen: Willkommen!

Indem die übrigen in der Tiefe verweilen und sich begrüßen,

kommt Melchtal mit Stauffacher vorwärts.

MELCHTAL: O Herr Stauffacher! Ich hab ihn

Gesehn, der mich nicht wiedersehen konnte!

Die Hand hab ich gelegt auf seine Augen,

Und glühend Rachgefühl hab ich gesogen

Aus der erloschnen Sonne seines Blicks.

STAUFFACHER: Sprecht nicht

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