Ungekürztes Werk "Wilhelm Tell" von Friedrich Schiller (Seite 10)
mir der Sohn entgangen,
So hab ich dich« – Läßt ihn zu Boden werfen,
Den spitz'gen Stahl ihm in die Augen bohren –
WALTHER FÜRST:
Barmherz'ger Himmel!
MELCHTAL stürzt heraus: In die Augen, sagt Ihr?
STAUFFACHER erstaunt zum Walther Fürst:
Wer ist der Jüngling?
MELCHTAL faßt ihn mit krampfhafter Heftigkeit:
In die Augen? Redet.
WALTHER FÜRST: O der Bejammernswürdige!
STAUFFACHER: Wer ist's?
Da Walther Fürst ihm ein Zeichen gibt:
Der Sohn ist's? Allgerechter Gott!
MELCHTAL:Und ich
Muß ferne sein! – In seine beiden Augen?
WALTHER FÜRST:
Bezwinget Euch, ertragt es wie ein Mann!
MELCHTAL:
Um meiner Schuld, um meines Frevels willen!
– Blind also? Wirklich blind, und ganz geblendet?
STAUFFACHER:
Ich sagt's. Der Quell des Sehns ist ausgeflossen
Das Licht der Sonne schaut er niemals wieder.
WALTHER FÜRST: Schont seines Schmerzens!
MELCHTAL: Niemals! Niemals wieder!
Er drückt die Hand vor die Augen, und schweigt einige Momente,
dann wendet er sich von dem einen zu dem andern,
und spricht mit sanfter, von Tränen erstickter Stimme:
O eine edle Himmelsgabe ist
Das Licht des Auges – Alle Wesen leben
Vom Lichte, jedes glückliche Geschöpf –
Die Pflanze selbst kehrt freudig sich zum Lichte.
Und er muß sitzen, fühlend, in der Nacht,
Im ewig Finstern – ihn erquickt nicht mehr
Der Matten warmes Grün, der Blumen Schmelz,
Die roten Firnen kann er nicht mehr schauen –
Sterben ist nichts – doch! leben und nicht sehen,
Das ist ein Unglück – Warum seht ihr mich
So jammernd an? Ich hab zwei frische Augen,
Und kann dem blinden Vater keines geben,
Nicht einen Schimmer von dem Meer des Lichts,
Das glanzvoll, blendend, mir ins Auge dringt.
STAUFFACHER:
Ach, ich muß Euren Jammer noch vergrößern,
Statt ihn zu heilen – Er bedarf noch mehr!
Denn alles hat der Landvogt ihm geraubt,
Nichts hat er ihm gelassen als den Stab,
Um nackt und blind von Tür zu Tür zu wandern.
MELCHTAL: Nichts als den Stab dem augenlosen Greis!
Alles geraubt, und auch das Licht der Sonne,
Des Ärmsten allgemeines Gut – Jetzt rede
Mir keiner mehr von Bleiben, von Verbergen!
Was für ein feiger Elender bin ich,
Daß ich auf meine Sicherheit gedacht,
Und nicht auf deine – dein geliebtes Haupt
Als Pfand gelassen in des Wütrichs Händen!
Feigherz'ge Vorsicht fahre hin – Auf nichts
Als blutige Vergeltung will ich denken,
Hinüber will ich – Keiner soll mich halten –
Des Vaters Auge von dem Landvogt fodern –
Aus allen seinen Reisigen heraus
Will ich ihn finden – Nichts liegt mir am Leben,
Wenn ich den heißen ungeheuren Schmerz
In seinem Lebensblute kühle. Er will gehen.
WALTHER FÜRST: Bleibt!
Was könnt Ihr gegen ihn? Er sitzt zu Sarnen
Auf seiner hohen Herrenburg und spottet
Ohnmächt'gen Zorns in seiner sichern Feste.
MELCHTAL: Und wohnt' er droben auf dem Eispalast
Des Schreckhorns oder höher, wo die Jungfrau
Seit Ewigkeit verschleiert sitzt – Ich mache
Mir Bahn zu ihm, mit zwanzig Jünglingen
Gesinnt wie ich, zerbrech ich seine Feste.
Und wenn mir niemand folgt, und wenn ihr alle
Für eure Hütten bang und eure Herden,
Euch dem Tyrannenjoche beugt – die Hirten
Will ich zusammenrufen im Gebirg,
Dort unterm freien Himmelsdache, wo
Der Sinn noch frisch ist und das Herz gesund,
Das ungeheuer Gräßliche erzählen.
STAUFFACHER zu Walther Fürst:
Es ist auf seinem Gipfel – wollen wir
Erwarten, bis das Äußerste –
MELCHTAL: Welch Äußerstes
Ist noch zu fürchten, wenn der Stern des Auges
In seiner Höhle nicht mehr sicher ist?
– Sind wir denn wehrlos? Wozu lernten wir
Die Armbrust spannen und die schwere Wucht
Der