Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 128)
gehöre, soll sie zu erblicken sein; ja schon seit dem Nachsommer soll sie das Haus und den Garten ihrer Mutter fast nicht mehr verlassen haben; auf dem Deiche und am Strande ist seit jenem Tage eine gewisse sehr jugendliche, kühne Schwimmerin nicht wieder gesehen worden.
Geredet wird viel darüber. Einige meinen, sie sei schon in der Wiege irgendeinem in unbekannter Abwesenheit lebenden Vetter verlobt worden, der weder das Tanzen noch das Schwimmen leiden könne, und der nun plötzlich seine Rechte geltend mache; andere sagen einfach, sie sei – verliebt. Nur für mich liegt alles in deutlicher Folge wie unter einem durchsichtigen Schleier.
Nein, nein; fürchte nicht, daß ich den Namen nenne! Ich kenne dich ja. Der grelle Tag soll die Dämmerung deiner Phantasie mit keinem Strahl durchbrechen; deine leiblichen Augen sollen sie nie gesehen haben! So seid ihr beide sicher, du in deinem Künstlertum und sie in ihrer heiligen Jungfräulichkeit, die du mir übrigens – o rätselhafter Widerspruch des Menschenherzens! – mit fast eigennützigem Eifer zu behüten scheinst.«
– – Er las nicht weiter; er hatte den Brief aus der Hand fallen lassen und stand jetzt, die Hände auf dem Rücken, vor dem düsteren Bilde seiner nordischen Walküre. Aber sie war ihm in diesem Augenblicke nichts als nur der Hintergrund, auf dem vor seinem inneren Auge ein anderes, lichtes Bild sich abhob. Langsam wandte er sich ab und trat ans Fenster.
Das Haus lag in einer der Vorstädte, welche die nordische Hauptstadt umgürten, und gewährte noch den freien Ausblick über Hecken und Felder, bis zum fernen Rand des Himmels, der jetzt ganz von leuchtendem Morgenrot überflutet war. Ein Schimmer des rosigen Lichtes lag auf dem Antlitze des jungen Künstlers selbst, der regungslos hinausschaute, als sähe er dort fern am Horizonte, was sich in seinem Inneren leis empordrängte und mehr und mehr Gestalt gewann. – – »Arme Psyche!« sprach er bei sich selber; »armer, gaukelnder Schmetterling! Von der blumigen Wiese, die deine Heimat war, hattest du dich aufs fremde Meer hinausgewagt. – – – Nein, Franz!« und es war, als ob er tiefer ins Morgenrot hineinschaute – »betrüge dich nicht selbst; du täuschest es doch nicht mehr hinweg! – Psyche, die knospende Mädchenrose, das schlummernde Geheimnis aller Schönheit, sie war es selbst. – – Wie gierig die Wellen nach ihr leckten! Wie sie mit den zarten Libellenflügeln spielten! – – War ich's denn wirklich, der auf diesen Armen sie emportrug?«
– Er war ins Zimmer zurückgetreten; Unwillkürlich hatten seine Hände einen auf der Modellierscheibe liegenden Klumpen weichen Tons ergriffen; dann bald auch eines der Modellierhölzchen, die dicht daneben lagen. –
»Wie erzählt nur Apulejus das anmutige Märchen? – Psyche, das arme leichtgläubige Königskind, hatte den neidischen Schwestern ihr Ohr geliehen: ein Ungeheuer sei der Geliebte, der nur in purpurner Nacht bei ihr verweilen wolle. Nach dem Rate der Argen, mit brennender Lampe und mit scharfem Stahl bewehrt, war sie an das Lager des Schlafenden getreten und erkannte, bebend vor Entzücken, den schönsten aller Götter. Aber die Lampe schwankte in der kleinen Hand, ein Tropfen heißen Öls erweckte