Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 129)
den Schlafenden, und zürnend entriß der Gott sich ihren schwachen Armen und hob sich in die Luft. Aus dem Wipfel einer Zypresse schalt er die törichte Geliebte; dann breitete er aufs neue die Schwingen aus und flog zu unsichtbaren Höhen. – – – O süße Psyche! Als im leeren Luftraum dein Auge ihn verlor, da hörtest du die Wellen des nahen Stromes rauschen; da sprangst du auf und stürztest dich hinein; dein zartes Leben sollte untergehen in den kalten Wassern!
Doch der Gott des Stromes, fürchtend den mächtigeren Gott, der selbst das Meer erglühen macht, trug dich auf seinen Armen sanft empor und legte dich auf die blühenden Kräuter seines Ufers. – – Nahmen nicht oft die Götter die Gestalt der Menschen an? – Vielleicht nahm er die meine, und mir träumte nur, ich sei es selbst gewesen. O süße Psyche, ich hätte dich an keinen Gott zurückgegeben!«
Nur in seinem Innern, unhörbar, hatte er alle diese Worte gesprochen. – Draußen am Himmel war das Morgenrot verschwunden, und dem schönen Aufgang war ein grauer Tag gefolgt. Der Flöte spielende Faun, wie alles andere, stand jetzt im kalten Schein des Winterhimmels; nur auf dem Antlitz des Künstlers selber schien noch ein Abglanz des jungen Lichts zurückgeblieben. Aber aus dem bunten Szenenwechsel, der vor seinem inneren Auge vorbeigezogen war, sah ihn stumm und rührend, wie um Gestaltung flehend, das eine Bild nur an. – Und seine Hände hatten nicht gerastet; schon war aus dem ungestalten Tonklumpen ein zarter Mädchenkopf erkennbar, schon sah man die geschlossenen Augen und die Wölbung des kleinen, leicht geöffneten Mundes.
Die Mittagshelle des Wintertages war heraufgezogen; da klopfte es von draußen mit leisem Finger an die Tür. – Er merkte es nicht; Ohr und Auge waren versunken in die eigene Schöpfung, die er aus dem Chaos an das Licht emportrug. – Da klopfte es noch einmal; dann aber wurde die Tür geöffnet.
Eine alte Frau war eingetreten. »Aber Franz, willst du denn gar kein Frühstück?«
»Mutter, du!« – Er war aufgesprungen und hatte hastig ein neben ihm liegendes Tuch über das junge Werk geworfen.
»Soll ich's nicht sehen, Franz? Hast du ein neues Werk begonnen? Du bist ja sonst nicht so geheimnisvoll.«
»Ja, Mutter, und diesmal fühl ich's, ist's das rechte. – Aber deshalb – noch nicht sehen! Auch du nicht, meine liebe, alte Mutter!«
Der Sohn hatte den Arm um sie gelegt. So führte er sie aus seiner Werkstatt, während sie zärtlich nickend zu ihm aufblickte, und bald traten die beiden in das freundliche Wohnzimmer, wo seit lange der Frühstückstisch für ihn bereit stand.
Es war Winter gewesen und Frühling geworden; aber auch der und der halbe Sommer waren schon dahingegangen; die Linden in der breiten Straße der Hauptstadt standen bestaubt, mit fast verdorrten Blättern. Statt der Natur, die hier so früh schon ihre Herrlichkeit zurücknahm, hatte die Kunst ihre Schätze ausgebreitet. Es war das Jahr der Kunstausstellung; die Tore des Akademiegebäudes hatten schon seit einigen Wochen dem Publikum offengestanden.
Unter den Werken der Bildhauerkunst war es besonders eine in halber Lebensgröße ausgeführte Marmorgruppe, welche die Teilnahme