Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 133)

der nordischen Küstenstadt.«

Der andere Tag war angebrochen.

So viel stand fest, er wollte fort; er hatte das Bedürfnis, ganz mit sich allein zu sein; kein Sohn einer Mutter, kein Freund eines Freundes. Er dachte an den Spreewald mit seinem Netz von hundert stillen Wasserarmen, in dessen Schatten er sich einmal mit seinem Freunde, dem Maler, einen schönen Sommermonat lang verloren hatte. Auf einsamen Nachen unter überhängenden Erlen hinzufahren, zwischen flüsterndem Schilfrohr oder durch die breiten, schwimmenden Blätter der Wasserlilie – wie erquickende Kühle wehte es ihn an. Er ging rascher unter den bestaubten Linden der Hauptstadt dahin; er konnte morgen, ja schon heute abreisen. Nur noch einmal wollte er seine Psyche sehen und dann einem dienst­eifrigen Freunde alles übrige wegen Zurücknahme des Werkes übertragen.

Die Sonne stand noch schräg am Himmel. Die Säle des Akademiegebäudes waren zwar schon offen, aber die herkömmliche Stunde des Besuches war noch nicht gekommen. Nur in dem oberen Stockwerke, in welchem die Gemäldeausstellung ihren Platz hatte, standen einzelne Fremde hie und da vor einem Bilde; in den unteren Räumen, wo sich die Werke der Bildhauerkunst befanden, schien noch alles leer. Da sie gegen Westen lagen, auch ein paar Kastanienbäume unweit der Fenster ihre laubreichen Zweige ausbreiteten, so entbehrten sie noch des helleren Lichtes; es war noch etwas von der unberührten Morgenfrühe in diesen hohen Sälen, und die Marmorbilder standen da in einsamer Schönheit und wie in feierlichem Schweigen.

Und doch, auch hier mußte schon ein Besucher sich eingefunden haben; denn ein leiser, tastender Schritt war eben in dem letzten der drei Säle verschollen, als der junge Bildhauer die Tür des Eingangssaales hinter sich geschlossen hatte. Auch er trat, wenngleich sicher wie im eigenen Hause, so doch fast behutsam auf, als scheue er sich, den Widerhall zu wecken, der nur leicht in diesen Räumen schlief.

Im mittleren Saale blieb er vor einer Venus stehen, die aus einer eben geöffneten Muschel zum erstenmal in die Welt des Sonnenlichts hinauszublicken schien. Aber seine Augen lagen nur wie abwesend auf der üppigen Gestalt, die hier von sinnentrunkener Künstlerhand geschaffen war; er hätte wohl selber nicht zu sagen gewußt, weshalb er vor diesem ihm so fremden Bild verweilte. Sein eigenes Werk befand sich nebenan im letzten Saale; er war ja nur gekommen, um einmal noch zu prüfen, wieviel von seinem Geheimnis es, ihm unbewußt, verraten haben könne, vielleicht auch – um in dem Marmorbild noch einen Abschied von der Lebenden zu nehmen. War es ihm doch plötzlich, als sei es in der lautlosen Stille dieser Hallen noch einmal wieder sein geworden, ja fast, als müsse er durch die offene Flügeltür das Atmen des schönen Steins vernehmen.

Da – es war keine Täuschung – schlug von dort ein leiser Klagelaut ihm an das Ohr; nur einmal, aber im freien Walde von einer verwundeten Hündin, meinte er solchen Ton gehört zu haben.

Rasch war er auf die Schwelle getreten; aber er kam nicht weiter. Dort an einer der großen Porphyrsäulen, welche hier die Decken der Säle tragen, lehnte ein Mädchen, noch immer eine Mädchenknospe, wie in sich zusammenbrechend,

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