Ungekürztes Werk "Minna von Barnhelm" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 19)

ich sei der Tellheim, den Sie in Ihrem Vaterlande gekannt haben; der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war, vor dem die Schranken der Ehre und des Glückes eröffnet standen, der Ihres Herzens und Ihrer Hand, wenn er schon Ihrer noch nicht würdig war, täglich würdiger zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich ebensowenig, als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der Verabschiedete – der an seiner Ehre Gekränkte, der Krüppel, der Bettler. – Jenem, mein Fräulein, versprachen Sie sich: wollen Sie diesem Wort halten? –

DAS FRÄULEIN. Das klingt sehr tragisch! – Doch, mein Herr, bis ich jenen wiederfinde – in die Tellheims bin ich nun einmal vernarret –, dieser wird mir schon aus der Not helfen müssen. – Deine Hand, lieber Bettler! (Indem sie ihn bei der Hand ergreift.)

V. TELLHEIM (der die andere Hand mit dem Hute vor das Gesicht schlägt und sich von ihr abwendet). Das ist zu viel! – Wo bin ich? – Lassen Sie mich, Fräulein! Ihre Güte foltert mich! – Lassen Sie mich.

DAS FRÄULEIN. Was ist Ihnen? Wo wollen Sie hin?

v. Tellheim. Von Ihnen! –

DAS FRÄULEIN. Von mir? (Indem sie seine Hand an ihre Brust zieht.) Träumer!

V. TELLHEIM. Die Verzweiflung wird mich tot zu Ihren Füßen werfen.

DAS FRÄULEIN. Von mir?

V. TELLHEIM. Von Ihnen. – Sie nie, nie wiederzusehen. – Oder doch so entschlossen, so fest entschlossen – keine Niederträchtigkeit zu begehen – Sie keine Unbesonnenheit begehen zu lassen. – Lassen Sie mich, Minna! (Reißt sich los und ab.)

Das Fräulein (ihm nach). Minna Sie lassen? Tellheim! Tellheim!

Dritter Aufzug

Erster Auftritt

Die Szene: Der Saal.

Just, einen Brief in der Hand.

Muß ich doch noch einmal in das verdammte Haus kommen! – Ein Briefchen von meinem Herrn an das gnädige Fräulein, das seine Schwester sein will. – Wenn sich nur da nichts anspinnt! – Sonst wird des Brieftragens kein Ende werden. – Ich wär es gern los, aber ich möchte auch nicht gern ins Zimmer hinein. – Das Frauenszeug fragt so viel, und ich antworte so ungern! – Ha, die Türe geht auf. Wie gewünscht! das Kammerkätzchen!

Zweiter Auftritt

Franziska. Just.

Franziska (zur Türe herein, aus der sie kömmt). Sorgen Sie nicht; ich will schon aufpassen. – Sieh! (indem sie Justen gewahr wird) da stieße mir ja gleich was auf. Aber mit dem Vieh ist nichts anzufangen.

JUST. Ihr Diener, Jungfer –

FRANZISKA. Ich wollte so einen Diener nicht –

JUST. Nu, nu, verzeih Sie mir die Redensart! – Da bring ich ein Briefchen von meinem Herrn an Ihre Herrschaft, das gnädige Fräulein – Schwester. – War's nicht so? Schwester.

FRANZISKA. Geb Er her! (Reißt ihm den Brief aus der Hand.)

JUST. Sie soll so gut sein, läßt mein Herr bitten, und es übergeben. Hernach soll Sie so gut sein, läßt mein Herr bitten – daß Sie nicht etwa denkt, ich bitte was! –

FRANZISKA. Nun denn?

JUST. Mein Herr versteht den Rummel. Er weiß, daß der Weg zu den Fräuleins durch die Kammermädchen geht: – bild ich mir ein!

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