Ungekürztes Werk "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 35)

– Ei, noch

So gar jung! – Nun, mit Gottes Hilfe, daraus

Kann etwas werden.

TEMPELHERR.  Mehr, ehrwürd'ger Herr,

Wohl schwerlich, als schon ist. Und eher noch,

Was weniger.

PATRIARCH.   Ich wünsche wenigstens,

Daß so ein frommer Ritter lange noch

Der lieben Christenheit, der Sache Gottes

Zu Ehr' und Frommen blühn und grünen möge!

Das wird denn auch nicht fehlen, wenn nur fein

Die junge Tapferkeit dem reifen Rate

Des Alters folgen will! – Womit wär' sonst

Dem Herrn zu dienen?

TEMPELHERR.    Mit dem nämlichen,

Woran es meiner Jugend fehlt: mit Rat.

PATRIARCH.

Recht gern! – Nur ist der Rat auch anzunehmen.

TEMPELHERR. Doch blindlings nicht?

PATRIARCH.    Wer sagt denn das? – Ei freilich

Muß niemand die Vernunft, die Gott ihm gab,

Zu brauchen unterlassen, – wo sie hin-

Gehört. – Gehört sie aber überall

Denn hin? – O nein! – Zum Beispiel: wenn uns Gott

Durch einen seiner Engel, – ist zu sagen,

Durch einen Diener seines Worts, – ein Mittel

Bekannt zu machen würdiget, das Wohl

Der ganzen Christenheit, das Heil der Kirche,

Auf irgendeine ganz besondre Weise

Zu fördern, zu befestigen: wer darf

Sich da noch unterstehn, die Willkür des,

Der die Vernunft erschaffen, nach Vernunft

Zu untersuchen? und das ewige

Gesetz der Herrlichkeit des Himmels, nach

Den kleinen Regeln einer eiteln Ehre

Zu prüfen? – Doch hiervon genug. – Was ist

Es denn, worüber unsern Rat für itzt

Der Herr verlangt?

TEMPELHERR.  Gesetzt, ehrwürd'ger Vater,

Ein Jude hätt' ein einzig Kind, – es sei

Ein Mädchen, – das er mit der größten Sorgfalt

Zu allem Guten auferzogen, das

Er liebe mehr als seine Seele, das

Ihn wieder mit der frömmsten Liebe liebe.

Und nun würd' unsereinem hinterbracht,

Dies Mädchen sei des Juden Tochter nicht;

Er hab' es in der Kindheit aufgelesen,

Gekauft, gestohlen, – was Ihr wollt; man wisse,

Das Mädchen sei ein Christenkind, und sei

Getauft; der Jude hab' es nur als Jüdin

Erzogen; lass' es nur als Jüdin und

Als seine Tochter so verharren: – sagt,

Ehrwürd'ger Vater, was wär' hierbei wohl

Zu tun?

PATRIARCH. Mich schaudert! – Doch zu allererst

Erkläre sich der Herr, ob so ein Fall

Ein Faktum oder eine Hypothes'.

Das ist zu sagen: ob der Herr sich das

Nur bloß so dichtet, oder ob's geschehn,

Und fortfährt zu geschehn.

TEMPELHERR.   Ich glaubte, das

Sei eins, um Euer Hochehrwürden Meinung

Bloß zu vernehmen.

PATRIARCH.    Eins? – Da seh' der Herr

Wie sich die stolze menschliche Vernunft

Im Geistlichen doch irren kann. – Mitnichten!

Denn ist der vorgetragne Fall nur so

Ein Spiel des Witzes: so verlohnt es sich

Der Mühe nicht, im Ernst ihn durchzudenken.

Ich will den Herrn damit auf das Theater

Verwiesen haben, wo dergleichen pro

Et contra sich mit vielem Beifall könnte

Behandeln lassen. – Hat der Herr mich aber

Nicht bloß mit einer theatral'schen Schnurre

Zum besten; ist der Fall ein Faktum; hätt'

Er sich wohl gar in unsrer Diözes',

In unsrer lieben Stadt Jerusalem

Ereignet: – ja alsdann –

TEMPELHERR.    Und was alsdann?

PATRIARCH.

Dann wäre an dem Juden fördersamst

Die Strafe zu vollziehn, die päpstliches

Und kaiserliches Recht so einem Frevel,

So einer Lastertat bestimmen.

TEMPELHERR. So?

PATRIARCH. Und zwar bestimmen obbesagte Rechte

Dem Juden, welcher einen Christen zur

Apostasie verführt, – den Scheiterhaufen, –

Den Holzstoß –

TEMPELHERR.   So?

PATRIARCH.   Und wieviel mehr dem Juden,

Der mit Gewalt ein armes Christenkind

Dem Bunde seiner Tauf' entreißt! Denn ist

Nicht alles, was man Kindern tut, Gewalt? –

Zu sagen: – ausgenommen, was die Kirch'

An Kindern tut.

TEMPELHERR. Wenn aber nun das Kind,

Erbarmte seiner sich der Jude nicht,

Vielleicht im Elend

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