Ungekürztes Werk "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 49)

den, auch den

Wird ihr das Brüderchen zu seiner Zeit

Schon schaffen; wie er immer nur zu finden!

Der Christlichste der Beste! – Nathan, Nathan!

Welch einen Engel hattet Ihr gebildet,

Den Euch nun andre so verhunzen werden!

NATHAN. Hat keine Not! Er wird sich unsrer Liebe

Noch immer wert genug behaupten.

TEMPELHERR.     Sagt

Das nicht! Von meiner Liebe sagt das nicht!

Denn die läßt nichts sich unterschlagen; nichts.

Es sei auch noch so klein! Auch keinen Namen! –

Doch halt! – Argwohnt sie wohl bereits, was mit

Ihr vorgeht?

NATHAN.  Möglich; ob ich schon nicht wüßte,

Woher?

TEMPELHERR. Auch eben viel; sie soll – sie muß

In beiden Fällen, was ihr Schicksal droht,

Von mir zuerst erfahren. Mein Gedanke,

Sie eher wieder nicht zu sehn, zu sprechen,

Als bis ich sie die Meine nennen dürfe,

Fällt weg. Ich eile ...

NATHAN.    Bleibt! wohin?

TEMPELHERR. Zu ihr!

Zu sehn, ob diese Mädchenseele Manns genug

Wohl ist, den einzigen Entschluß zu fassen,

Der ihrer würdig wäre!

NATHAN. Welchen?

TEMPELHERR.   Den:

Nach Euch und ihrem Bruder weiter nicht

Zu fragen –

NATHAN. Und?

TEMPELHERR.    Und mir zu folgen; – wenn

Sie drüber eines Muselmannes Frau

Auch werden müßte.

NATHAN.    Bleibt! Ihr trefft sie nicht.

Sie ist bei Sittah, bei des Sultans Schwester.

TEMPELHERR. Seit wenn? warum?

NATHAN.    Und wollt Ihr da bei ihnen

Zugleich den Bruder finden: kommt nur mit.

TEMPELHERR. Den Bruder? welchen? Sittahs oder Rechas?

NATHAN.

Leicht beide. Kommt nur mit! Ich bitt Euch, kommt!

(Er führt ihn fort.)

Sechster Auftritt

Szene: in Sittahs Harem.

Sittah und Recha in Unterhaltung begriffen.

SITTAH.

Was freu ich mich nicht deiner, süßes Mädchen! –

Sei so beklemmt nur nicht! so angst! so schüchtern!

Sei munter! sei gesprächiger! vertrauter!

RECHA. Prinzessin, ...

SITTAH. Nicht doch! nicht Prinzessin! Nenn

Mich Sittah, – deine Freundin, – deine Schwester.

Nenn mich dein Mütterchen! – Ich könnte das

Ja schier auch sein. – So jung! so klug! so fromm!

Was du nicht alles weißt! nicht alles mußt

Gelesen haben!

RECHA.   Ich gelesen? – Sittah,

Du spottest deiner kleinen albern Schwester.

Ich kann kaum lesen.

SITTAH.    Kannst kaum, Lügnerin!

RECHA.

Ein wenig meines Vaters Hand! – Ich meinte,

Du sprächst von Büchern.

SITTAH.   Allerdings! von Büchern.

RECHA.

Nun, Bücher wird mir wahrlich schwer zu lesen! –

SITTAH.

Im Ernst?

RECHA.  In ganzem Ernst. Mein Vater liebt

Die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich

Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt,

Zu wenig.

SITTAH.   Ei, was sagst du! – Hat indes

Wohl nicht sehr unrecht! – Und so manches, was

Du weißt ...?

RECHA. Weiß ich allein aus seinem Munde

Und könnte bei dem meisten dir noch sagen,

Wie? wo? warum? er mich's gelehrt.

SITTAH.   So hängt

Sich freilich alles besser an. So lernt

Mit eins die ganze Seele.

RECHA.      Sicher hat

Auch Sittah wenig oder nichts gelesen!

SITTAH.

Wieso? – Ich bin nicht stolz aufs Gegenteil. –

Allein wieso? Dein Grund! Sprich dreist. Dein Grund?

RECHA. Sie ist so schlecht und recht; so unverkünstelt;

So ganz sich selbst nur ähnlich ...

SITTAH. Nun?

RECHA.    Das sollen

Die Bücher uns nur selten lassen! sagt

Mein Vater.

SITTAH.  O was ist dein Vater für

Ein Mann!

RECHA.    Nicht wahr?

SITTAH. Wie nah er immer doch

Zum Ziele trifft!

RECHA.    Nicht wahr? – Und diesen Vater –

SITTAH. Was ist dir, Liebe?

RECHA. Diesen Vater –

SITTAH.    Gott!

Du weinst?

RECHA.    Und diesen Vater – Ah! es muß

Heraus! Mein Herz will Luft, will Luft ...

(Wirft sich, von Tränen überwältiget, zu ihren Füßen.)

SITTAH.    Kind, was

Geschieht dir? Recha?

RECHA.    Diesen Vater soll –

Soll ich verlieren!

SITTAH. Du? verlieren? ihn?

Wie das? – Sei ruhig! – Nimmermehr! – Steh auf!

RECHA. Du

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