Ungekürztes Werk "Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing (Seite 9)

mich schärfer Saladin

Ins Auge faßt, mir näher springt, und winkt.

Man hebt mich auf; ich bin entfesselt; will

Ihm danken; seh sein Aug' in Tränen: stumm

Ist er, bin ich; er geht, ich bleibe. – Wie

Nun das zusammenhängt, enträtsle sich

Der Patriarche selbst.

KLOSTERBRUDER.    Er schließt daraus,

Daß Gott zu großen, großen Dingen Euch

Müss' aufbehalten haben.

TEMPELHERR.  Ja, zu großen!

Ein Judenmädchen aus dem Feu'r zu retten;

Auf Sinai neugier'ge Pilger zu

Geleiten; und dergleichen mehr.

KLOSTERBRUDER.   Wird schon

Noch kommen! – Ist inzwischen auch nicht übel. –

Vielleicht hat selbst der Patriarch bereits

Weit wicht'gere Geschäfte für den Herrn.

TEMPELHERR.

So? meint Ihr, Bruder? – Hat er gar Euch schon

Was merken lassen?

KLOSTERBRUDER.  Ei, jawohl! – Ich soll

Den Herrn nur erst ergründen, ob er so

Der Mann wohl ist.

TEMPELHERR.  Nun ja, ergründet nur!

(Ich will doch sehn, wie der ergründet!) – Nun?

KLOSTERBRUDER.

Das Kürzste wird wohl sein, daß ich dem Herrn

Ganz gradezu des Patriarchen Wunsch

Eröffne.

TEMPELHERR.

   Wohl!

KLOSTERBRUDER.

   Er hätte durch den Herrn

Ein Briefchen gern bestellt.

TEMPELHERR.    Durch mich? Ich bin

Kein Bote. – Das, das wäre das Geschäft,

Das weit glorreicher sei, als Judenmädchen

Dem Feu'r entreißen?

KLOSTERBRUDER.   Muß doch wohl! Denn – sagt

Der Patriarch – an diesem Briefchen sei

Der ganzen Christenheit sehr viel gelegen.

Dies Briefchen wohl bestellt zu haben, – sagt

Der Patriarch, – werd einst im Himmel Gott

Mit einer ganz besondern Krone lohnen.

Und dieser Krone, – sagt der Patriarch, –

Sei niemand würd'ger, als mein Herr.

TEMPELHERR.   Als ich?

KLOSTERBRUDER.

Denn diese Krone zu verdienen, – sagt

Der Patriarch, – sei schwerlich jemand auch

Geschickter, als mein Herr.

TEMPELHERR.    Als ich?

KLOSTERBRUDER. Er sei

Hier frei; könn' überall sich hier besehn;

Versteh', wie eine Stadt zu stürmen und

Zu schirmen; könne, – sagt der Patriarch,

Die Stärk' und Schwäche der von Saladin

Neu aufgeführten, innern, zweiten Mauer

Am besten schätzen, sie am deutlichsten

Den Streitern Gottes, – sagt der Patriarch,

Beschreiben.

TEMPELHERR.    Guter Bruder, wenn ich doch

Nun auch des Briefchens nähern Inhalt wüßte.

KLOSTERBRUDER.

Ja den, – den weiß ich nun wohl nicht so recht.

Das Briefchen aber ist an König Philipp. –

Der Patriarch ... Ich hab mich oft gewundert,

Wie doch ein Heiliger, der sonst so ganz

Im Himmel lebt, zugleich so unterrichtet

Von Dingen dieser Welt zu sein herab

Sich lassen kann. Es muß ihm sauer werden.

TEMPELHERR.

Nun dann? der Patriarch? –

KLOSTERBRUDER.    Weiß ganz genau,

Ganz zuverlässig, wie und wo, wie stark,

Von welcher Seite Saladin, im Fall

Es völlig wieder losgeht, seinen Feldzug

Eröffnen wird.

TEMPELHERR.  Das weiß er?

KLOSTERBRUDER. Ja, und möcht'

Es gern dem König Philipp wissen lassen:

Damit der ungefähr ermessen könne,

Ob die Gefahr denn gar so schrecklich, um

Mit Saladin den Waffenstillestand,

Den Euer Orden schon so brav gebrochen,

Es koste was es wolle, wiederher-

Zustellen.

TEMPELHERR. Welch ein Patriarch! – Ja so!

Der liebe tapfre Mann will mich zu keinem

Gemeinen Boten; will mich – zum Spion. –

Sagt Euerm Patriarchen, guter Bruder,

Soviel Ihr mich ergründen können, wär'

Das meine Sache nicht. – Ich müsse mich

Noch als Gefangenen betrachten, und

Der Tempelherren einziger Beruf

Sei mit dem Schwerte dreinzuschlagen, nicht

Kundschafterei zu treiben.

KLOSTERBRUDER.   Dacht' ich's doch! –

Will's auch dem Herrn nicht eben sehr verübeln. –

Zwar kömmt das Beste noch. – Der Patriarch

Hiernächst hat ausgegattert, wie die Feste

Sich nennt, und wo auf Libanon sie liegt,

In der die ungeheuern Summen stecken,

Mit welchen Saladins vorsicht'ger Vater

Das Heer besoldet, und die Zurüstungen

Des Kriegs bestreitet. Saladin verfügt

Von Zeit zu Zeit auf abgelegnen Wegen

Nach dieser Feste sich,

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